… sagte der kurdische Reporter Nedim Türfent, wenn seine Familie sich aufgrund massiver Drohungen gegen ihn sorgte: „Es geht nicht um mich, es geht um die Gesellschaft. Es geht darum, die freie Presse zu unterdrücken und zum Schweigen zu bringen.“ So berichtet es seine Schwester Şehristan in ihrem „ersten Versuch, einen Artikel zu schreiben,“ in über Mauern, dem im September erschienenen Solidaritätsband für ihren Bruder. 6,5 Jahre war Türfent, der „den Menschen, denen sonst niemand Beachtung schenkt,“ Stimme sein will, inhaftiert. Er hatte die Hintergründe eines Videos recherchiert, das brutale Gewalt einer türkischen Sondereinheit gegen kurdische Bauarbeiter zeigt, und in der Tageszeitung Evrensel darüber berichtet. Für diesen Bericht wurde er 2015 mit dem Musa-Anter-Journalismus-Preis ausgezeichnet, von der türkischen Justiz 2016 aber wegen angeblicher Mitgliedschaft in einer bewaffneten terroristischen Vereinigung zu langer Haft verurteilt. Obwohl er zunächst als Papier nur das Etikett der Wasserflaschen zur Verfügung hatte, schrieb er weiter und fing sogar an, Lyrik zu schreiben. Nach Verbüßung seiner Haftstrafe kam er nun am 29.11.22 frei. über Mauern, der Band mit Texten von ihm und über ihn, ist deshalb aber keineswegs obsolet …
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War es ein Unfall, Kodokushi* oder gar Selbstmord? Warum lief Osman einfach weiter, als der Lkw auf ihn zuhielt? In ihrem lang erwarteten neuen Roman Osman (2020) verfolgt die renommierte türkische Autorin Ayfer Tunç aus der Perspektive von Augenzeugen und Freunden den Lebensweg eines Mannes aus der Istanbuler High Society, der sich treiben lässt, scheitert, alles verliert und nicht versteht, warum. In Interviews und Tagebuchauszügen entwirft sie ein Gesellschaftspanorama mit Fokus auf die areligiöse urbane türkische Oberschicht von den Neunzigern bis zum Jahr 2020. Wer Tunçs frühere Romane gelesen hat, erkennt spätestens, wenn immer wieder „das Ereignis“ auftaucht, wer Osman ist bzw. war …
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Wie schreibt ein:e Schriftsteller:in? Das interessiert viele Leser:innen, auch wenn uns allen klar ist, dass jede:r anders schreibt. Stellvertretend für uns neugierige Leser:innen hat die türkische Literaturzeitschrift Edebiyat Atölyesi kürzlich den Bestsellerautor Ahmet Ümit nach seinem Schreibprozess gefragt, ich habe das kleine Interview für euch übersetzt:
Haben Sie eine Schreibroutine? Wie oft schreiben Sie? Schreiben Sie immer am selben Ort?
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Häusliche Gewalt gegen Frauen – Leylas Geschichte
Zum 1.7.21 vollzog die Türkei aller Proteste zum Trotz den Ausstieg aus der Istanbul Konvention, dem Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. Quasi „den Roman zum Abkommen“ schrieb die feministisch engagierte Autorin Seray Şahiner 2014: Antabus. Ein Aufschrei gegen die unsägliche Kumpanei in einer männerdominierten Gesellschaft, die allzu vielen Frauen das Leben zur Hölle macht. Mit der Aufkündigung der Konvention hat die türkische Regierung Verhältnisse zementiert wie die „fiktiv-reale“ Geschichte Leylas, die ihren Leidensweg nur durch Suizid beenden zu können glaubte …
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Heute erscheint Ahmet Ümits großes Berlin-Bergama-Krimi-Epos in der Türkei
Ein Toter, der sein noch blutendes Herz dem Göttervater Zeus darreicht, vor dem donnernden Video-Clip Altar of Zeus in Endlosschleife. Hat der Mann sein Herz dem Gott geopfert, fragen sich da unwillkürlich die Berliner Hauptkommissarin Yıldız Karasu und ihr Assistent Tobias … Der türkische Meisterkriminalist Ahmet Ümit führt seine Kommissar:innen im neuen Krimi Kayıp Tanrılar Ülkesi (Land der verlorenen Götter) in gewohnter Manier mitten ins blutige Geschehen hinein, diesmal im quirligen Multi-Kulti-Berlin von heute. Yıldız, Kommissarin mit Migrationshintergrund, Identifikationsfigur und Sympathieträgerin, ermittelt in dieser grandiosen Berlin-Pergamon-Saga zwischen griechischen Göttern, jungen Türken, die sich mit deutschen Rassisten schlagen, Polizisten, die gegen Neonazis kämpfen, Menschen unterschiedlichster Lebensentwürfe und dem Versuch einer Art Chronik rassistischer Anschläge in Deutschland …
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„
Hatte ich das Dorf nicht vor vielen Jahren hinter mir gelassen? Warum haben sie mich jetzt hierher zurückgebracht?“, fragt sich die soeben begrabene alte Frau auf dem Friedhof in einem Dorf in Anatolien. Dort finden in nur zwei Tagen gleich drei Beerdigungen statt. Die drei sehr unterschiedlich aus dem Leben geschiedenen Toten kommen mit ihren Geschichten und Hinterbliebenen und treffen im Dorf auf wenige dort verbliebene Alten, und auf einen stadtflüchtigen Aussteiger. Mit Arı Fısıltıları (Das Wispern der Bienen) hat die deutsch-türkische Autorin Menekşe Toprak einen nachdenklich stimmenden Roman zwischen Stadt und Land, zwischen Politik und Sinnsuche, vor allem aber zwischen Leben und Tod vorgelegt.
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„Mir ging es vor allem darum, im Buchhandel eine eigene Sektion für türkische Literatur zu schaffen, damit sie nicht einfach als arabische Literatur vermarktet wird“, sagt die türkische Literaturagentin Nermin Mollaoğlu zu ihrer Motivation. Inwieweit ihr das mit ihrem Team bei Kalem Agency, 2005 in Istanbul gegründet, gelungen ist, mit welchen Schwierigkeiten sie zu kämpfen hat und wie wichtig der Dialog mit Übersetzer:innen ist, erzählt die Trägerin des Literary-Agent-Award der Londoner Buchmesse in Interviews.
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„Mich interessieren die Schäden, die das System in unserer Seele anrichtet“, sagt die engagierte türkische Journalistin und Autorin Pınar Öğünç. Im ersten Lockdown 2020 ließ sie Menschen vor allem aus dem „prekären Milieu“* in einer Interview-Serie im Own-Story-Format eindringlich zu Wort kommen. Lebensbilder vom System gebeutelter „kleiner Leute“, „denen schon als Kind klar war, dass das Leben ihnen keine Chancen zu bieten hat“, zeichnet sie auch in ihrem zweiten Erzählband Beterotu (Schlimmerkraut, 2019). Ihre Held:innen bemühen sich, aus der Monotonie des Alltags auszubrechen und einen Zipfel vom Glück zu erhaschen. Manchen gelingt das mit wunderbarer Phantasie, andere strampeln sich vergeblich ab, einige verrennen sich fürchterlich …
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Batman/Südosttürkei, Ende 2006, der jungen Lehrerin Zehra fallen zwei Lebensberichte in die Hände: das Tagebuch eines seit einer Woche verschwundenen, vermutlich entführten Freundes und anonyme Briefe einer Frau, die von ihrer entsetzlichen Kindheit Anfang der 1990er erzählt. Beide offenbaren vielfach verdrängte Erinnerungen an die Hizbullah-Morde und die Welle der Suizide von Frauen und Mädchen in der Region. Mit ihrem Debütroman Mevsim Yas [Jahreszeit Trauer] taucht die kurdische Autorin Mehtap Ceyran mitten in kollektive Traumata ein und erzählt, „weil man nicht vergessen kann“* …
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Ein brandaktuelles Corona-Buch aus der Türkei, mit einer Einbettung in „das Epidemie-Abenteuer der Menschheit“ (so der Untertitel) von einem Journalisten&Kolumnisten, dachte ich, interessant, das muss ich lesen und besprechen, solange die Pandemie noch omnipräsent ist. Er habe „zusammengebracht, was so noch nicht zusammengedacht“ worden sei, postuliert denn auch Umur Talu im Vorwort zu Senin Adın Corona Olsun… (Corona soll dein Name sein). Er wolle zeigen, dass alles mit allem zusammenhänge, horizontal (weltweit) wie auch vertikal durch die Geschichte. Spannend! Ab dem ersten Kapitel überrascht mich das Buch, das alles andere als ein Corona-Buch ist, vielmehr eine Art Wunderkammer der Assoziationen eines, sagen wir, sprunghaften, hervorragend informierten und meisterhaft recherchierenden Geistes …
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Wer kein Gesicht hat, existiert nicht. (Oliver Bottini)
Mercan reinigt Treppenhäuser, sie ist eine der „stillen Held:innen des Alltags“, eine der prekär beschäftigten Dienstleister:innen, auf die wir alle angewiesen sind, ohne sie bewusst wahrzunehmen. Genau das ist es, was Mercan am meisten schmerzt: unsichtbar, austauschbar zu sein. Seray Şahiner holt sie in ihrem zweiten Roman Kul* (2017) aus dem toten Winkel unserer Wahrnehmung heraus. Die Autorin erzählt nicht von und über Mercan, vielmehr atmet sie ihr Lebensgefühl und lässt uns daran teilhaben. Mercan steht stellvertretend für so viele andere Frauen, die von Kindheit an darauf konditioniert sind, für andere zu sorgen, die das Gefühl brauchen, gebraucht zu werden. „Das uns Frauen vermittelte Rollenbild ist die Frau, die auf den Mann wartet“, merkt die Autorin im Interview an. Sei der Mann da, fange das Leben an; Mercans Leben aber beginnt, als ihr Mann gegangen ist …
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Die Aufarbeitung der Geschichte schlägt sich früher oder später immer auch in der Literatur nieder. So wurde in der Türkei etwa über den Genozid an den Armenier*innen oder die Massaker an Kurd*innen bereits mehrfach geschrieben. Kaum beachtet dagegen blieb bisher die Vertreibung genozidalen Ausmaßes der Pontos-Griechen vom Schwarzen Meer. Tamer Çilingir legte 2016 dazu seine grundlegende Studie Pontos Gerçeği: 1914-21 Yılları Arasında Karadeniz’de Yaşananlar (Die Pontos-Wahrheit: Was 1914-21 am Schwarzen Meer geschah) vor. In den USA war bereits im Jahr 2000 Thea Halos viel beachtetes Werk Not even my name über das Schicksal ihrer als 10-Jährige deportierten pontosgriechischen Mutter erschienen. Jüngst machte sich der Journalist Mirko Heinemann auf Spurensuche in der alten Heimat seiner Großmutter an der türkischen Schwarzmeerküste. Seine spannende, breit angelegte und historisch unterfütterte Reportage Die letzten Byzantiner erschien 2019. Den – meines Wissens – ersten Roman zum Thema legte Defne Suman 2018 vor: Kahvaltı Sofrası (Am Frühstückstisch) …
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„Wie in jeder Monsunzeit sind Millionen Menschen in Südasien von heftigem Regen und Erdrutschen betroffen. Hilfsorganisationen kritisieren, große Bauvorhaben hätten die Situation verschlimmert.“ (Tagesschau vom 21. Juli 2020) Eine beinahe jährlich wiederkehrende Nachrichtenmeldung, kaum gehört, schon vergessen. Betroffen blättere ich ein paar Seiten in meiner aktuellen Lektüre zurück, Kamala Markandayas Nektar in einem Sieb:
Der Regen fiel so stark, so lange und so ununterbrochen, dass der Gedanke an eine regenlose Zeit nur sanftes Staunen hervorrief. (…) Als die Nacht herankam – die achte Nacht des Monsuns -, wurde der Sturm immer stärker, heulte und klagte rings um unsere Hütte (…) Der Blitz schlug fast ohne Unterlass seine Krallen in den Himmel, und der Donner erschütterte die Erde …
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Desh koi lautet das Schibbolet („Password“) zur bengalischen Diaspora: Aus welcher Gegend stammst du? Stimmen- und Sprachengewirr in einer fremden Stadt, alles unbekannt, Eindrücke stürzen auf dich ein, bald aber fokussieren sich die Sinne, du nimmst Details wahr, der Sprachendschungel lichtet sich, du fängst an zu verstehen. So ergeht es dem Antiquar Deen Datta aus Brooklyn in Venedig, als er unvermutet an jeder Ecke Bengali vernimmt. Amitav Ghosh, der auf Englisch schreibende Weltliterat mit bengalischen Wurzeln, zerrt seinen so arrivierten wie vorurteilsbehafteten Protagonisten in seinem neuen Roman Die Inseln (2019) gnadenlos aus der Komfortzone und wirft ihn auf einer Route von Kalkutta/Kolkata, Los Angelos, Venedig bis nach Sizilien mitten hinein in einen Strudel aus Mythen und Migrationsbewegungen, Metaphysik und Klimakatastrophe.
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Wird nach Autorinnen aus der Türkei in deutscher Übersetzung gefragt, fällt fast immer und oft einzig der Name Elif Shafak. Selbstverständlich gibt es sehr viel mehr, höchste Zeit also für eine kleine Bestandsaufnahme. Sie soll auch ein Beitrag zur Debatte über die Unterrepräsentanz von Autorinnen im Literaturbetrieb sein, die derzeit unter #frauenlesen #frauenzählen #vorschauenzählen in den sozialen Medien geführt wird. Ergebnisse der Zählung stellten die Literaturwissenschaftlerinnen Nicole Seifert und Berit Glanz jüngst im Spiegel vor. Dort forderten sie abschließend von Verlagen u.a.: „Übersetzt zeitgenössische wie klassische Autorinnen aus den ‚kleinen Sprachen’ …“ Als Literaturübersetzerin aus dem – in Westeuropa als ‚kleine Sprache’ wahrgenommenen – Türkischen kann ich mich da nur anschließen. Wie steht es also um Übersetzungen von Autorinnen aus der Türkei? Weiterlesen »
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