Desh koi lautet das Schibbolet („Password“) zur bengalischen Diaspora: Aus welcher Gegend stammst du? Stimmen- und Sprachengewirr in einer fremden Stadt, alles unbekannt, Eindrücke stürzen auf dich ein, bald aber fokussieren sich die Sinne, du nimmst Details wahr, der Sprachendschungel lichtet sich, du fängst an zu verstehen. So ergeht es dem Antiquar Deen Datta aus Brooklyn in Venedig, als er unvermutet an jeder Ecke Bengali vernimmt. Amitav Ghosh, der auf Englisch schreibende Weltliterat mit bengalischen Wurzeln, zerrt seinen so arrivierten wie vorurteilsbehafteten Protagonisten in seinem neuen Roman Die Inseln (2019) gnadenlos aus der Komfortzone und wirft ihn auf einer Route von Kalkutta/Kolkata, Los Angelos, Venedig bis nach Sizilien mitten hinein in einen Strudel aus Mythen und Migrationsbewegungen, Metaphysik und Klimakatastrophe.
Auf Stippvisite in der alten Heimat Kolkata holt Deen seine Vergangenheit als Experte für bengalisches Volkstum ein. Tante Nilima, eine sozial bewegte eigensinnige alte Dame, die sich mit ihrer Stiftung um gebeutelte Frauen in der Region kümmert, nötigt ihn, den Schrein der Schlangengöttin Manasa Devi in den Sundarbans zu sichten. Unterwegs zu den unwegsamen Mangrovenwäldern im Grenzgebiet zu Bangladesh lässt Deen sich die Sage des Kampfes der Göttin mit Bonduki Sadagar, dem „Gewehrhändler“, erzählen. Im Laufe der Erzählung verästelt sie sich in immer neuen Aspekten. Die Geschichte nimmt Fahrt auf, als Deens überdrehter, im Menschenhandel tätiger Führer Tipu von einer Kobra gebissen wird. Der junge Fischer Rafi, letzter Hüter des eindrucksvollen, doch halb verfallenen Schreins, nimmt sich des Jungen an, die Rettung gelingt mit knapper Not. Doch seit dem Delirium hat Tipu prophetische Visionen, mit denen er fortan seine Umgebung behelligt. Auch Deen, den Schlangen, Spinnen, kryptische Symbole des Schreins, und Bondukis Geschichte nicht mehr loslassen.
Von Kolkata und den Sundarbans, wo sich Zyklone und Überschwemmungen häufen, geht es über das akut von Waldbränden bedrohte Los Angelos nach Venedig, wo Stürme, Hochwasser und Armeen von Holzwürmern dräuen, die klammheimlich die Pfähle, auf denen die Stadt erbaut ist, aushöhlen. Hier weilt Deen als Berater für eine Doku über Migration und folgt, u.a. im alten jüdischen Viertel, den Spuren Bondukis. Nach einer dramatischen Begegnung bekommt Deen Zugang zur großen bengalischen Community in der Stadt. Migrant:innen scheinen es zu sein, die die alternde bedrohte Stadt im Inneren zusammenhalten. Dramatisch wird es, als ein Sturm nächtliche Überschwemmungen bringt und nicht nur symbolisch ringsum so manches zusammenbricht. Zum Showdown kommt es um ein blaues Fischerboot mit Flüchtlingen vor Sizilien, auf dem sich auch einer der Protagonisten befindet, der lange verschollen war. Sturm, Meer, Schulen von Walen und Delfinen, geradezu magische Vogelschwärme, eine Armada aus italienischer Marine, internationaler Seemission, Charterbooten mit Rassisten auf der einen und Flüchtlingshelfer:innen auf der anderen Seite – in der Schlussszene bietet der Autor noch einmal großes Kino.
Das Buch hat einen Ich-Erzähler, Deen, und zwei junge männliche Protagonisten, Rafi und Tipu, die treibenden Charaktere aber sind – wie häufig in Ghoshs Büchern – starke Frauen: vor allem die resolute Meeresbiologin Piya, die sich in der Leitung der Stiftung für Frauen engagiert und aus Liebe zu den bedrohten Meeressäugern im Irrawaddy-Delta versucht, mit Umweltschutzaktivist:innen gemeinsam eine Raffinerie zu verhindern; Cinta, die empathische und exzentrische Koryphäe für die Geschichte Venedigs, Deens Mentorin seit Jahrzehnten, und Lubna, die Witwe, die sich ehrenamtlich um die bengalischen Migrant:innen in Venedig kümmert.
Ghosh lässt Deen erhellend über Vorurteile, Zufälle, Lesen, Migration, Flucht und Menschenhandel gestern und heute nachdenken. Er zieht etwa Parallelen zwischen aktuellen Fluchtbewegungen und dem historischen Handel mit Sklaven und Kontraktarbeitern:
Die Wünsche und Begehrlichkeiten der [westlichen] Metropolen hatten Menschen auf fremde Kontinente gebracht, damit sie dort verkäufliche Waren in immer größeren Mengen herstellten. In diesem System waren Sklaven und Kulis die Produzenten, nicht die Konsumenten; nie hätten sie sich die gleichen Wünsche anmaßen können wie ihre Herren. Jetzt hingegen wollten junge Männer wie Rafi, Tipu und Bilal genau das – in Gestalt von Smartphones, Computern, Autos. Und wie auch nicht? Begehenswert waren seit ihrer Kindheit nicht die Flüsse und Felder ihrer Umgebung, sondern die Dinge, die auf den Displays ihrer Telefone aufblitzten.
Lesen war Deen in der Jugend der Weg, der Enge seiner Welt zu entfliehen. Doch konnte es nicht sein,
dass mir meine Welt genau deshalb so eng vorgekommen war, weil ich so ein unersättlicher Leser war? (…) [Bücher] hatten Träume und Wünsche erzeugt, die in genau demselben Sinne verunsicherten, wie sie zu Instrumenten meiner Entwurzelung wurden. Wenn bloße Worte schon diesen Effekt haben konnten, welchen dann erst die Bilder und Videos, die ständig auf Laptops und Smartphones vor unseren Augen ablaufen? Wenn es stimmt, dass ein Bild mehr sagt als tausend Worte, welche Macht üben dann die Milliarden von Bildern aus, die heutzutage bis in die letzten Ecken der Erde vordringen? Was bewirken die Träume und Wünsche, die sie wecken? Und welche Folgen hat die Rastlosigkeit, die sie auslösen?
Nachdenklich lässt der Autor mich zurück, nicht nur mit der Frage nach der Wirkung von Büchern und Bildern. Gern wüsste ich auch, wie es weitergeht mit Piyas Kampf für die Sundarbans, mit Rafi und Tipu, die den Aufbruch in ein ganz neues Leben wagen, mitten unter uns und doch scheinbar in weiter Ferne.
Amitav Ghosh fügt mit diesem Buch den inzwischen mannigfachen Narrativen über Flucht und Migration mit seinem Fokus auf Bengalen eine im deutschen Sprachraum bisher kaum beachtete Geographie hinzu. Hier legt er zudem den in seinem Essay Die große Verblendung. Der Klimawandel als das Undenkbare (2017) angemahnten Roman vor.
Nach Die Flut des Feuers, dem dritten Band der Ibis-Trilogie, in dem es dem Autor nur noch um das Abarbeiten seines enormen Materialkonvoluts zu gehen schien, ist Ghosh zurück mit einer frischen, rasanten Erzählung, streckenweise spannend wie ein Thriller, dann wieder tiefsinnig, philosophisch, vor allem aber unmittelbar am Puls der Zeit.
Amitav Ghosh: Die Inseln. Aus dem Englischen von Barbara Heller und Rudolf Hermstein. Karl Blessing Verlag, München 2019 (Original: Gun Island, 2019).
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