… sagte der kurdische Reporter Nedim Türfent, wenn seine Familie sich aufgrund massiver Drohungen gegen ihn sorgte: „Es geht nicht um mich, es geht um die Gesellschaft. Es geht darum, die freie Presse zu unterdrücken und zum Schweigen zu bringen.“ So berichtet es seine Schwester Şehristan in ihrem „ersten Versuch, einen Artikel zu schreiben,“ in über Mauern, dem im September erschienenen Solidaritätsband für ihren Bruder. 6,5 Jahre war Türfent, der „den Menschen, denen sonst niemand Beachtung schenkt,“ Stimme sein will, inhaftiert. Er hatte die Hintergründe eines Videos recherchiert, das brutale Gewalt einer türkischen Sondereinheit gegen kurdische Bauarbeiter zeigt, und in der Tageszeitung Evrensel darüber berichtet. Für diesen Bericht wurde er 2015 mit dem Musa-Anter-Journalismus-Preis ausgezeichnet, von der türkischen Justiz 2016 aber wegen angeblicher Mitgliedschaft in einer bewaffneten terroristischen Vereinigung zu langer Haft verurteilt. Obwohl er zunächst als Papier nur das Etikett der Wasserflaschen zur Verfügung hatte, schrieb er weiter und fing sogar an, Lyrik zu schreiben. Nach Verbüßung seiner Haftstrafe kam er nun am 29.11.22 frei. über Mauern, der Band mit Texten von ihm und über ihn, ist deshalb aber keineswegs obsolet …
Es war ein reiner Schauprozess, mit unter Folter erpressten Aussagen von Zeugen, die in den Verhandlungen erklärten, Türfent gar nicht zu kennen, und ihn um Verzeihung baten. Die Verurteilung zu 8 Jahren und 9 Monaten Haft war eine „ausgemachte Sache“, berichtet Türfents Anwalt im Text der Evrensel-Redakteurin Meltem Akyol. Ihr Artikel “Ein Prozess, zahllose Ungerechtigkeiten”, Türfents für das Buch geschriebener Beitrag “Ist „Neutralität“ wirklich Neutralität?” sowie der Epilog leuchten die politischen und juristischen Hintergründe aus.
Journalist oder Terrorist?
Warum werden vor allem regierungskritische Journalist:innen vom türkischen Staat als „Terroristen“ abgestempelt, obwohl sie lediglich ihre Arbeit als Journalist:innen tun? „Nach dem Anti-Terror-Gesetz“, berichtet der im Özgür-Gündem-Prozess selbst angeklagte Redakteur Hüseyin Aykol, „beträgt die Strafe, die ein Journalist aufgrund seiner journalistischen Tätigkeit erhalten kann, zwischen einem und zwei Jahren. Als Mitglied einer Organisation kann eine Person jedoch problemlos zu fünf bis zehn Jahren verurteilt werden.“ Zudem mache es sich dem Ausland gegenüber besser, Inhaftierte als Terroristen hinzustellen.
Schreiben in Einzelhaft
„Der Gefängnisdirektor sagt, dass ich wegen meines Berufs als Journalist nicht in einer normalen Zelle gehalten werden kann, da ich sonst jeden Tag über irgendwen einen Artikel schreiben würde.“ Türfent schrieb trotzdem: Artikel, die er über seinen Anwalt an Redaktionen schickte, auch eine Kolumne für die Solidaritätsplattform taz.gazete, berichtete darin aber weniger über sich selbst als vielmehr über die Umstände In der Haft und im Land und über andere politische Gefangene, Fälle, die in der Öffentlichkeit kaum bekannt waren. Und er, der nach seiner Ausbildung als Englischlehrer den Weg in den Journalismus gewählt hatte, fing an, Gedichte zu schreiben. Lyrik sei für ihn „Ausweg und Zuflucht zugleich“. Ein Band mit Gedichten auf Türkisch, Kuş Aynası [Vogelspiegel], erschien im September 2021. Ein Jahr später präsentiert über Mauern achtzehn neue Gedichte, allesamt erstmals in deutscher Übersetzung.
Die Gedichte
sind Texte über Hoffnung, Sehnsucht, Solidarität, über den Menschen, sein Wesen, seinen Alltag, auch in der Zelle, über die brutale Realität draußen, vor allem in den kurdischen Gebieten … Nur zwei Ausschnitte aus zwei Beispielen:
lebender kadaver
man weiß nicht, / welcher regenschauer ihn durchnässt, / welcher sturm ihn hergeweht hat / unanständig, unmoralisch, / ein lebender kadaver, ein mann / betrat den traum / des engelsgleichen kindes. // aus der kanalisation der trüben, dunklen nacht / aus den tiefen der nach aas stinkenden kloake / trat heraus die verkörperung des ekels / verwandelte die schattenlosen träume des kindes / in einen albtraum. (…) [Übersetzung: Çiler Fırtına]
trotz allem – alles für die hoffnung
(…) denn aus verzweiflung entsteht hoffnung / unbedingt. / unerbittlich und urplötzlich / wieder und wieder / langsam aus ihrer asche erblühend / hoffnung wie das lächeln der liebsten. / hoffnung, die partei ergreift im widerstande / zerreißt den schleier des geheimnisses / haarscharf. / wie erhellt mit einer fackel das licht der gedanken. / ihre hartnäckigkeit führt nicht zu schwarzmalerei / vielmehr zum mutigen richten der teuflischen. (…) [Übersetzung: Sabine Adatepe]
Herausgegeben, ausgewählt und zusammengestellt von den Amnesty-Aktivistinnen Cornelia Rohr und Bernadette Ronnes beeindruckt die Sammlung durch ihre Vielstimmigkeit: Neben seinen eigenen Texten und den Gedichten finden sich unterschiedliche Berichte von Kolleg:innen, Wegbegleiter:innen, Unterstützer:innen, die ein lebendiges Bild von Nedim Türfent zeichnen. Auch die Vielzahl von Übersetzer:innen trägt positiv zum bunten Spektrum bei.
Keine Freiheit draußen …
Nedim Türfent ist nicht allein. Im doppelten Sinn, einmal durch die Solidarität, die ihm von vielen durch Briefe und nicht zuletzt durch den beeindruckenden Band über Mauern bezeigt wird. Für ihn setzten sich u.a. PEN-Zentren weltweit ein, auch PEN transmissions. Doch leider ist er nur einer von vielen, viel zu vielen politischen Gefangenen. In der Türkei ist es zur Regel geworden, dass bei Übergriffen und Gewalt staatlicher Kräfte nicht die Täter bestraft werden, sondern die Journalist:innen, die darüber berichten. Die Haltung der Regierung Journalist:innen gegenüber habe sich nicht geändert, seit er inhaftiert wurde, bedauerte Türfent bei seiner Freilassung, im Gegenteil, die Repression sei noch gestiegen.
„Die Freilassung aus dem Gefängnis betrachte ich nicht als eine Freiheit. Freiheit ist etwas anderes, sie ist nicht außerhalb von vier Wänden. Häftlinge sind nicht bloß eine politische Sache. Es gibt Gefangene, die krank sind und seit Jahren im Gefängnis sitzen. Dieses Bild ist nicht gut für das Land.“ (Statement)
Türfent ist überzeugt: „Schweigen bedeutet nicht Neutralität, sondern vielmehr die Unterstützung und Bestätigung der Gräueltaten und des Bösen.“ Zweifellos wird er weiterschreiben und alles tun, um denjenigen „Stimme und Atem“ zu sein, „die kein Kissen haben, auf das sie ihren Kopf betten können.“ Ich bin gespannt auf seine neuen Texte aus der Freiheit, die keine ist …
Nedim Türfent: über Mauern. Gedichte und Text eines Journalisten im Gefängnis – eine Sammlung -. Hgg. v. Cornelia Rohr u Bernadette Ronnes, Köln: Bernadette Ronnes c/o Friedensbildungswerk 2022 (zu beziehen über den Buchhandel oder direkt bei freejournalists@t-online.de)
Siehe auch: Gerrit Wustmann, „Die Gefängnistexte von Nedim Türfent – Hinter den Mauern von Van“
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