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Posts Tagged ‘chinesische Literatur’

Liao Yiwu ILB 2010 (Foto: Adatepe) Er ist wahrhaftig da, steht auf der Bühne, in einfache chinesische Kleider gehüllt, den Kopf gesenkt, in der einen Hand eine goldene Klangschale, die andere führt gleichmäßig den Schlegel an deren Rand entlang. Plötzlich reißt er den Kopf hoch, singt, klagt. Die Worte verstehen nur die wenigsten im prall gefüllten Theatersaal des Haus der Kulturen der Welt in Berlin an diesem frühen Abend des 19. September 2010. Das Leid und die Fähigkeit, es zu erdulden, eine Art Langmut, die der lang erwartete, oft vergeblich eingeladene chinesische Schriftsteller und, ja, Straßenmusiker Liao Yiwu mit seiner Stimme und später mit der Flöte hier zum Ausdruck bringt, ergreift das Publikum jedoch unmittelbar.

Kurz darauf liest Frank Arnold einfühlsam und mitreißend die Reportage „Der Trauermusiker“ aus Liaos Buch Fräulein Hallo und der Bauernkaiser und wieder erklingt dieses tiefgründige, an- und abschwellende Summen der Klangschale, die Liao, wie in melancholische Erinnerungen versunken, auf dem Schoß rührt. Anschließend beantwortet Liao die Fragen des Moderators Hans Christoph Buch, der ein wenig verunsichert scheint von der geradezu stoischen Ruhe, die Liao ausstrahlt, auch in den zum Teil knappen Antworten, die von einer namenlos bleibenden Dolmetscherin noch knapper übertragen werden. Schale und Flöte seien Symbole seines Berufes, „Gestorbene und Lebende zusammenzuführen“, mit ihnen spende er den Menschen „ganz unten“ Trost.

Buchs Bitte, doch einen Ausschnitt aus dem Gedicht Massaker zu lesen, das 1989 Anlass für Liaos Inhaftierung war, lehnt der Autor ab, seine physische Kraft reiche dazu heute nicht aus. Die Umstände seiner Ausreise, zuvor immer wieder von chinesischer Seite verhindert, oft buchstäblich in letzter Minute wie noch im Frühjahr 2010, als Liao auf dem Weg zur Lit.Cologne noch aus dem Flugzeug geholt worden war, kann er sich selbst kaum erklären. Schicksal eben. So scheint er auch die vier Haftjahre hingenommen zu haben, die sein Leben verändert hätten.Liao Yiwu u. Frank Arnold, ILB 2010 (Foto: Adatepe) „Sonst wäre ich so wie die Schriftsteller, die Sie auf der Buchmesse gesehen haben.“ Seither aber thematisiert er das Leben der Unsichtbaren und schreibt nur das auf, was tatsächlich geschieht. Fiktion liegt ihm seither fern.

Mehrfach äußert Liao in ehrlicher Bescheidenheit, was er erlebt habe, sei doch „nichts“, er sei nach wie vor ein „ganzer Mann“ – im Gegensatz zu einem Historiker, der vor rund 2000 Jahren für ein Wort der Wahrheit kastriert worden war.

Die „Lesung“ im Rahmen des ILB 2010, des Internationalen Literaturfestivals Berlin, konnte dem Autor nicht wirklich gerecht werden, war offenbar auch mehr als Solidaritätsveranstaltung gedacht. 2011 wird Liaos Autobiographie in deutscher Übersetzung erscheinen. Dazu sagt Liao: „Manchmal weiß ich beim Schreiben nicht mehr, ob ich über die Leute ganz unten schreibe oder über mich selbst.“

Moderator Buch wünscht zum Schluss, China möge nicht nur seine Wirtschaft, sondern seine Seele sprechen lassen. Auf die Frage nach seinem ganz persönlichen Traum für China kommt von Liao eine auf den ersten Blick wenig naheliegende, unpolitische, fast realitätsentrückte Äußerung: Die Fähigkeit zur ästhetischen Beurteilung von Kunst sei in China verloren gegangen, möge eines Tages dort jeder wieder über ein eigenes ästhetisches Bewusstsein verfügen. Einmal ausgereist, will Liao Yiwu nicht im Ausland bleiben, auch wenn er Angst habe, es gebe doch immer schwierige Situationen in seinem Land. Es bleibt zu wünschen, dass für Autor Liao künftig wieder literarische Veranstaltungen vor Solidaritätsversammlungen treten können.

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Eine ungewöhnliche Allianz fand sich am 4. Juni, dem 21. Jahrestag des Massakers auf dem Platz des „Himmlischen Friedens“ in Peking, in Hamburg zu einer Solidaritätslesung für den chinesischen Autor Liao Yiwu zusammen aus dem 2009 gegründeten Harbour Front Literaturfestival, Literaturhaus Hamburg, dem Kultur- und Theaterzentrum Kampnagel, Thalia Theater, dem kleinen feinen Zusammenschluss aus der Hamburger Literaturszene Macht e.V., bekannt durch das monatliche Literatur-Event Machtclub, und der Künstlerinitiative „Komm in die Gänge“, der es gelang, den Fortbestand des alten Hamburger Gängeviertels zu sichern. Dem Bündnis, das sich die 3-stündige Lesung vierteilte, gelang es, prominente Namen aufzubieten.

Teil I, moderiert von Hans-Juergen Fink, Gastgeber im Namen des Kultur-Ressorts vom Hamburger Abendblatt, wurde von Journalisten und Schauspielerinnen bestritten. Der bekannte TV-Moderator und Autor Ulrich Wickert zitierte Wolf Biermann – die Herrschenden in China hassen Liao, weil sie ihn fürchten –, erzählte von persönlichen Verbindungen nach China und las Adé, du fernes Frankfurt. Liao hatte den Text 2009 geschrieben, nachdem ihm die Ausreise u.a. zur Frankfurter Buchmesse von chinesischer Seite verweigert worden war (SZ v. 14.10.09). Maike Schiller, die als Kultur-Chefin des Abendblatts kürzlich Fink ablöste, las gemeinsam mit der Schauspielerin Franziska Hartmann vom Thalia Theater einen Teil aus dem „Trauermusiker“, dem ersten Interview in Liaos Sammelband Fräulein Hallo und der Bauernkaiser. Den zweiten Teil übernahmen der Journalist und Autor Michael Jürgs und die Thalia-Schauspielerin Karin Neuhäuser, der es gelang, den Text derart lebendig und überzeugend zu präsentieren, dass jede heimische Lektüre dagegen verblasste.

Teil II übernahm Friederike Moldenhauer, Mitinitiatorin und Sprecherin von Macht e.V., mit freien Hamburger Autoren. Stefan Beuse, Benjamin Maack, Michel Abdollahi, Frank Schulz und der Regisseur und Maler Hector Kirschtal lasen nacheinander und leider nicht szenisch den eindringlichen Bericht „Die Familie eines Opfers vom 4. Juni“, ebenfalls aus Fräulein Hallo. Dem Autor und Musiker Benjamin Maack ist zu danken, dass er als einziger, und sei es nur kurz, die Ironie der Location thematisierte: Ausgerechnet in der Axel-Springer-Passage, dem Bauch gewissermaßen der Zentrale des Springer-Konzerns fand die Lesung statt. Es mag auch dieser Örtlichkeit geschuldet sein, dass die Veranstaltung nicht wirklich gut besucht war, denn wer aus der alternativen Szene, die sich die Solidarität mit Liao zu eigen machen könnte, besucht schon eine Veranstaltung bei Springer?

Umso begrüßenswerter war die Beteiligung der Initiative „Komm in die Gänge“ in Person der Sprecherin Christine Ebeling und der Künstlerin Rita Kohel. Erst durch die Instandbesetzung von Seiten einer größeren Gruppe von Kreativen konnte das traditionelle, wenn auch heruntergekommene Gängeviertel 2009 aus den Händen eines Immobilieninvestors, der den Abriss plante, gerettet werden. Der Initiative gelang es, die Stadt zu veranlassen, den bereits abgeschlossenen Verkauf an den niederländischen Investor rückgängig zu machen und den Erhalt des Viertels im Herzen der Stadt und zudem in unmittelbarer Nachbarschaft zur Springer-Zentrale sicherzustellen. Ebeling verlas eine Solidaritätserklärung und lud Liao Yiwu anlässlich des für den Herbst geplanten Hamburgbesuchs, soweit er nicht erneut von chinesischer Seite an der Ausreise gehindert wird, auch ins Gängeviertel ein. Anschließend brachte sie Liaos offenen Brief vom 09.02.2010 an Kanzlerin Merkel zu Gehör. Liao bat Merkel darum, ihre Verbindungen einzusetzen und auf seine Ausreise hinzuwirken, damit er zur lit.COLOGNE 2010 reisen könne. In letzter Minute wurde Liao dennoch in China aus dem Flugzeug geholt. Rita Kohel las Einsame Seelen, wilde Geister, den offenen Brief, den Liao daraufhin seinen deutschen LeserInnen schrieb, eine lyrische Schilderung, wie er im Gefängnis lernte, die Bambusflöte zu spielen.

Der vierte und letzte Teil wurde vom Literaturhaus bestritten. Hans-Juergen Fink vom Abendblatt und Pastor Frank Engelbrecht lasen szenisch eindrucksvoll Liaos Interview mit dem Bankdirektor, der zum „Konterrevolutionär“ wurde, als er aufschrieb und verbreitete, was er mit eigenen Augen am 4. Juni 1989 aus dem Hotelfenster in Peking beobachtet hatte. Fink beschloss den Abend mit dem Brecht-Zitat: „Weil es so ist, bleibt es nicht so“ und äußerte seine Hoffnung, dass Liao im Herbst der Einladung von Harbour Front Literaturfestival Hamburg und Hamburger Abendblatt folgen könne und sich bei der dann anberaumten Lesung das Publikum zahlreicher einfinde (im bereits gedruckt vorliegenden Programm des Festivals findet sich allerdings kein Hinweis auf Liao).

Im Aufruf zur weltweiten Solidaritätslesung für Liao vom ILB ging es um die Erinnerung an das Massaker vom Tian’anmen-Platz 1989, um die Solidarität mit dem in seiner Heimat unter schwierigsten Bedingungen lebenden Autor Liao, eine kurze Einführung zum Thema hatte Nikolaus Broschek von Human Rights Watch zu Beginn gegeben. Nicht zuletzt sollte Liaos Werk einer breiteren Öffentlichkeit bekannt gemacht werden. Ob Letzteres gelungen ist, ist zumindest für die Hamburger Lesung trotz des prominenten Aufgebots von Veranstalterseite fraglich. Es bleibt zu hoffen, dass Liao Yiwu in nächster Zukunft selbst vor Ort sein kann, um für sich und viele andere in China verfemte Schriftsteller und Intellektuelle zu sprechen.

PS: Liaos Poem „Massaker“, aufgrunddessen er 1990 verurteilt wurde, hat Karin Betz für litprom und die Frankfurter Solidaritätslesung nun auch ins Deutsche übersetzt, in den LiteraturNachrichten von litprom ist es bereits abgedruckt und kann dort in einigen Wochen im Archiv auch online abgerufen werden.

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Liao Yiwu (Editions Bleu de Chine) Der verfemte chinesische Autor Liao Yiwu war am 4. Juni 1989 nicht selbst auf dem Tian’anmen-Platz in Beijing dabei, sein Gedicht Massaker, das er in der Empörung und dem Schmerz über die blutige Niederschlagung des Aufstands vom 4. Juni 1989 verfasste, brachte ihn dennoch für vier Jahre hinter Gitter. Als er 1994 entlassen wurde, stand er buchstäblich auf der Straße. Sein Mut aber, beim Namen zu nennen, was er für richtig erkannt hatte, war ungebrochen. Wieder machte er sich auf, Menschen zu interviewen, denen Unrecht widerfahren war. Die Interviews erschienen 2008 unter dem Titel Fräulein Hallo und der Bauernkaiser auch in deutscher Sprache, aus dem Chinesischen kundig übertragen von Hans Peter Hoffmann und Brigitte Höhenrieder. Im Trubel der Neuerscheinungen chinesischer Literatur zum Ehrengastauftritt China auf der Frankfurter Buchmesse ging dieser außergewöhnliche Band ein wenig unter, war im Reigen von Belletristik und autobiographischen Erzählungen möglicherweise auch zu kantig. Es lohnt, die Lektüre nachzuholen. Für alle, die sich für China, für chinesische Kultur und Gesellschaft interessieren, ist der Band geradezu unerlässliche Pflichtlektüre, zeichnet Liao mit seinen 29 Portraits unterschiedlichster Menschen verschiedenster Professionen und Altersstufen, vor allem aber verschiedenster Formen von Bewältigung des in allen Fällen schwierigen Alltagslebens ein so realistisches Bild der chinesischen Gesellschaft, wie kein kritischer Fernseh- oder Printbeitrag es besser könnte. Denn er lässt die Menschen selbst zu Wort kommen, lässt sie reden, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist, und über das, was ihnen auf dem Herzen liegt. Sich selbst versteht Liao als Dokumentar all dieser Schicksale, der die Gespräche anstößt, aber auch Erläuterungen oder eigene Erfahrungen beisteuert. Auch hält er mit seinen Gefühlen und Gedanken nicht zurück, wenn ihn etwa die allzu verharmlosende Schilderung eines reuelosen Menschenhändlers empört oder die unglaubliche Geschichte von Folter und Unterdrückung einer unbeugsamen Falun-Gong-Anhängerin rührt.

Der Klomann hat die Bezeichnung „Rinderteufel und Schlangengeister“ für unliebsame Bürger, speziell Intellektuelle, während der Kulturrevolution derart verinnerlicht, dass er noch heute Professoren so nennt. Die Idee der „Intellektualisierung der arbeitenden Bevölkerung“, eine Devise der Kulturrevolution und eine „Kleinigkeit“, wie der Klomann meint, ist gerade den Menschen „ganz unten“ vielfach noch heute selbstverständlich. Nicht nur im Gespräch mit ihm wird die extreme Diskrepanz zwischen Intellektuellen, zu denen auch Liao gehört, der zum Erstaunen der meisten Gesprächspartner gar nicht „an den großen Töpfen essen“ will, und dem Volk, i.e. seinen Interviewpartnern, überdeutlich. Immer wieder erstaunlich ist, mit welcher Apathie die Menschen ihre Diskriminierung hinnehmen. So der angeblich Leprakranke, zu dem Liao von einem aufgrund seines christlichen Glaubens ausgestoßenen Arztes geführt wird, der untätig mitansah, wie seine Frau verbrannt wurde, weil die Dorfgemeinschaft sie vom Schlangendrachen glaubte. Aberglauben, Naturglauben, Fatalismus und Gleichgültigkeit sind der propagierten „neuen Gesellschaft“ zum Trotz allgegenwärtig.

Fräulein „Hallo“, gerade 18 und glücklich damit, in den Tag hineinzuleben und sich von Männern aushalten zu lassen, ist stolz darauf, der „neuen Generation“ anzugehören, die vor dem Fernseher aufgewachsen ist. Liao, der sich ihren Annäherungsversuchen wie auch ihrem Geplapper über angesagte Popstars entzieht, bescheidet sie spöttisch: „Unter den Sauriern wärst du der Größte“. Den Bauernkaiser trifft Liao im Gefängnis, hatte der sich doch 1985 angeblich auf Initiative des lokalen Fengshui-Meisters zum Kaiser ausgerufen und anschließend mit seiner Armee bewaffneter Bauern das lokale Krankenhaus besetzt, um die staatliche 1-Kind-Politik zu verbannen, es zum Palast umgewidmet und gleich die anwesenden Krankenschwestern zu Mätressen genommen. Wie diese traurige Figur beziehen sich viele, auch und vor allem kaum Gebildete in Taten und Ideen auf Figuren aus Mythologie, klassischer Literatur und Revolutionsepik, bei Jüngeren erst werden diese Metaphern durch Film- und Fernsehbilder abgelöst.

Ein Fengshui-Meister verdeutlicht den schmalen Grad zwischen traditionellem Wissen, das nach wie vor gefragt und teuer bezahlt ist, und moderner Politik, und damit einmal mehr die Heuchelei der Menschen. Ein uralter Mönch, dem persönlich alles Unrecht dieser Welt geschah, grämt sich vor allem um den nach Jahrzehnten der Zerstörung und Plünderung schlechten Zustand des Tempels. „Von 1950 bis zum Vorabend der neuen Religionspolitik 1978 war das zeitlich längste schlechte Karma in der Geschichte Chinas“, meint er rückblickend und: „Die Idee Buddhas kennt keine Grenzen.“ Heute leitet er nach besten Kräften wieder den heruntergekommenen Tempel. Der Komponist Wang, der durch seine Musik als einziger seiner Familie Denunzierung, „Bekämpfung“ und Demütigung überlebt hat und dessen Bericht streckenweise schier unerträglich, dann plötzlich symphonisch ist, nennt seine Musik einen „großen lackschwarzen Teich“ – und prägt damit eine Metapher für eine ganze Epoche.

Einen erschütternden Bericht über die drei Jahre des Hungers 1958-1961, bis heute offiziell als Naturkatastrophe geltend, liefert der ehemalige Arbeitsgruppenleiter, sprich Parteifunktionär, Zheng. „Die Phantasie des Menschen ist unerschöpflich, wenn es darum geht, das Falsche zu tun“, weiß er, berichtet von der Rodung der Wälder im Zuge der Eisen- und Erzkampagne und der Gründung der Volksküchen, die mit der Beschlagnahme sämtlicher privaten Küchenutensilien und Lebensmittel einherging und maßgeblich die folgende Hungersnot mit auslöste. Kannibalismus wurde zur Routine, in einigen Regionen fielen fast 90% der Mädchen unter 7 Jahren dem Überleben der Familie zum Opfer. Selbst die wenigen zur Anzeige gebrachten Fälle wurden aus lauter Hilflosigkeit und Alternativlosigkeit nicht weiter verfolgt. Hier findet sich einer der eindringlichsten Augenzeugenberichte der drei Katastrophenjahre überhaupt.

Ein ehemaliger Grundbesitzer, ein junger Grabräuber, der keiner ist, in der Haft aber zum Krüppel gemacht wird, Liao bietet hie einen einzigartigen Einblick in Kriminellenmilieus in der Haft und ihre Instrumentalisierung durch Vollzugsbeamten, ein blinder Spieler der Erhu, der zweisaitigen Kniegeige, ein Straßensänger, mit dem Liao Jahre zuvor während seiner Zeit als Straßenmusikant bekannt geworden war, die Frau eines schlafwandelnden Schriftstellers und ein Wanderarbeiter, der freimütig einräumt, es sich als Rikschafahrer nicht leisten zu können, den Helden zu spielen, wenn sein Fahrgast von Straßenräubern überfallen werde, kommen ebenso zu Wort wie der Direktor des Nachbarschaftskomitees, nichts anderes als eine Art Blockwart, ein alter Rotgardist, der zu seinen Taten steht und dennoch heute sagt: „Wo Religion verboten wird, ist Diktatur nicht weit“, und ein Leichenschminker, der auf Hochzeitsschminker umsatteln muss, da Leichen heute verbrannt werden. Ein Dorflehrer erinnert Liao daran, dass Schriftsteller sich das Meiste aus den Fingern saugen, Bauern jedenfalls läsen ihre Romane nie. Ein Fengshui-Meister berichtet von einem Totenrufer, einem ob seiner Dekadenz verbotenen und mittlerweile vermutlich ausgestorbenen Berufsstand, wobei die Dekadenz sichLiao Yiwu, The Corpse Walker auf die Angehörigen des Verstorbenen bezieht, die zwei junge, kräftige Männer, die Totenrufer eben, anheuerten, eine/n Verstorbene/n auf ihrem Rücken durchs halbe Land an den Ort der Herkunft zurückzutransportieren, wobei sie unterwegs lauthals die Passanten ermahnen mussten, sich abzuwenden, daher ihr Name (und der Titel der englischen Ausgabe).

Als zufälliger Augenzeuge vom 4. Juni wird ein Bankdirektor aus der Provinz zum „Konterrevolutionär“ und zu 4 Jahren Haft verurteilt, weil er aus dem Hotelfenster mitansieht, wie das Militär einen unbewaffneten Jugendlichen erschießt, und nicht umhin kann, das Gesehene in Form eines hastig kopierten Flugblatts zu verbreiten. 2005 besucht Liao auch die vom Pech verfolgte Familie eines jungen Studenten, der am 4. Juni fotografieren wollte und wohl auch fotografiert hat, bevor er auf der Straße ermordet wurde.

Liao fragt sich angesichts des Leids, warum er all das eigentlich dokumentieren will – und bleibt die Antwort schuldig. Vielleicht dient sein Material als Vorarbeit für eine Wahrheitskommission, die für die meisten Betroffenen, wenn überhaupt, allerdings zu spät käme. Die Vergangenheit, konstatiert Detlev Claussen im Nachwort, ist auch in China nicht vergangen. Erinnerung aber erfordere mühselige Arbeit, während die neue Gesellschaft auch den Chinesen unbeschwerten Spaß verspreche. Liao gibt der namenlosen „schweigenden Mehrheit realsozialistischer Gesellschaften“, jenen Menschen, die es „offiziell gar nicht gibt“ eine Stimme und macht die sichtbar, die im Dunkeln leben.

Liao Yiwu, L'empire des bas-fonds Erst in den ungefilterten Worten der Menschen, die als Täter oder Opfer die Zeiten des Hungers, der Kulturrevolution wie auch der jüngsten Öffnung des Landes hin zum kapitalistischen System erlebt, erlitten, mitgetragen haben, glimmt für den westlichen Leser eine Ahnung vom Leben ihrer chinesischen Zeitgenossen auf. Liao Yiwus Sammelband Fräulein Hallo und der Bauernkaiser ist eine unverzichtbare Grundlage für jede weitere Beschäftigung mit dem modernen China und seiner Gesellschaft.

Im Nachwort bettet Detlev Claussen die Gesprächspartner Liaos, den er als „Untergrundsoziologen“ bezeichnet, in ein für den westlichen Leser aufschlussreiches soziopolitisches Umfeld ein und zieht ein ernüchterndes Fazit: Ein selbstbestimmtes Leben „bleibt in der chinesischen Gesellschaft eine Utopie“.

Das Massaker vom Tian’anmen, vom Platz des „Himmlischen Friedens“, jährt sich zum 21. Mal. Zu diesem Anlass rief das ILB zu weltweiten Solidaritätslesungen für Liao auf, der, selbst am Rande der Gesellschaft zu leben gezwungen, ungeachtet aller möglichen Konsequenzen für seine Person entschlossen und wiederholt das Schweigen bricht.

Liao Yiwu: Fräulein Hallo und der Bauernkaiser: Chinas Gesellschaft von unten. Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann und Brigitte Höhenrieder. Mit einem Vorwort von Philipp Gourevitch, einer Einführung von Wen Huang und einem Nachwort von Detlev Claussen. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2009, (Deutsche Erstausgabe, ungekürzte Neuübersetzung) ISBN 978-3-10-044812-5, € 22,95 (Für 2011 ist eine Taschenbuchausgabe angekündigt.)

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Çocuk bayramı – Tag des Kindes ist seit Republiksgründung der 23. April in der Türkei. Die UNESCO dagegen erklärte 1995 den 23. April zum Welttag des Buches. In Deutschland machten sich insbesondere Stiftung Lesen und Börsenverein des Deutschen Buchhandels diesen Tag zu eigen. Stiftung Lesen verschenkt in einer Gutscheinaktion für Schulen und Buchhandlungen auch 2010 wieder eine neue Auflage des Büchleins “Ich schenk dir eine Geschichte” an junge LeserInnen.

Liao Yiwu, Fräulein Hallo und der Bauernkaiser Zu einem besonderen “Tag des Lesens” und damit zur Unterstützung der chinesischen Demokratiebewegung und speziell des Autors Liao Yiwu ruft dieser Tage das internationale literaturfestival berlin ilb mit Unterstützung zahlreicher namhafter AutorInnen auf: Am 4. Juni, dem Jahrestag des Massakers vom Tian’anmen-Platz in Beijing 1989, soll mit einer weltweiten Lesung das Werk des Autors Liao Yiwu einer breiteren Leserschaft bekannt gemacht, an das Massaker von 1989 erinnert und China im Blick auf die Menschenrechte dringend gemahnt werden. Wer sich mit einer Lesung an der Aktion beteiligen möchte, wird gebeten, das Berliner Literaturfestival zu informieren unter worldwidereading@literaturfestival.com. Dort liegen auch die für die Lesung ausgewählten Texte Liaos auf Deutsch und Englisch zum Abruf bereit. Darunter auch Der 4. Juni (Auszug in Lettre 81), die sehr persönliche Erinnerung Liaos an die Verfolgung und Haft, die ihm die Veröffentlichung seines Protestgedichts Massaker einbrachte. Ein aktuelles Portrait von Liao brachte FR-China-Korrespondent Bartsch im März 2010.

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Frühlingsanfang 1979 in der jungen chinesischen Industriestadt Hun Jiang. Ein trauriges Datum für Ehepaar Gu. Auf diesen Tag ist die Hinrichtung ihrer Tochter Shan angesetzt. Lehrer Gu ist geneigt, die Tochter für schuldig zu halten. Ihr Wandel vom einen Extrem ins andere, von der bis zum Gewaltexzess hin fanatischen Jugendaktivistin der Kulturrevolution zur geächteten Konterrevolutionärin, bleibt ihm unverständlich, wie er sich auch allgemein unverstanden fühlt in diesem Provinznest unter ungebildeten Arbeiter. Frau Gu dagegen packt eine Tasche mit Kleidern, um sie dem alten Totenritual entsprechend zu verbrennen, damit die Tochter im Jenseits nicht darbe …

Ein dramatischer Einstieg in eine vielschichtige Tragödie, die die Leserin bis zur letzten Seite in Atem hält. Mit Die Sterblichen von 2009 legt Yiyun Li ihren ersten Roman vor. Aufgewachsen ist die amerikanisch-chinesische Autorin in Beijing, lebt aber seit 1996 in den USA, wo sie u.a. Creative Writing lehrt und mit Kurzgeschichten und Essays bereits einige Aufmerksamkeit erregte. Nun also ein fulminantes Romandebüt, das inhaltlich wie handwerklich überzeugt. Li jongliert mit einer Vielzahl von Personen und Handlungssträngen, die sie gekonnt ebenso überraschend wie scheinbar zwangsläufig verknüpft.

Kaum ein Thema der postmaoistischen chinesischen Gesellschaft, das Li nicht anpackt, ohne dass ein Gefühl der Überfrachtung aufkäme: Organhandel, Korruption des Staatsapparats, das Drama ausgesetzter weiblicher Babys, die Geringschätzung von Töchtern und Frauen durch alle Schichten, politische Winde, die schneller drehen, als der gesunde Menschenverstand es zu fassen vermag. Die Menschen führten ein Leben, schreibt Li, „das sie selbst nicht verstanden“. Mancher lässt sich aus Berechnung oder Unverstand zu Handlungen verleiten, die anderen und am Ende immer auch ihm selbst größten Schaden zufügen. So der beflissene Schüler Tong, der auf einer Kundgebung den Namen seines Vaters unter eine Deklaration setzt und damit die Familie ins Unglück stürzt. Oder Bashi, der selbstgefällige junge Mann an der Grenze zum Wahnsinn, der sich in die viel zu junge Nini verliebt, obwohl er sie eigentlich nur benutzen wollte. Allein um sich aufzuspielen, denunziert er die halbe Stadt und endet, verfemt als Mädchenschänder, selbst im Gefängnis. Helden wollen sie alle sein oder werden von anderen zu Helden stilisiert, „Helden der Revolution“, traurige Helden. „Für mich war dieser Roman ein Weg, Heldentum zu hinterfragen“, äußerte Li im Interview 2008. Sie sei in einer solchen Kultur, wie sie im Buch geschildert ist, in Beijing aufgewachsen, habe als Kind selbst Denunziationsinszenierungen erlebt, habe mit der Mutter täglich die Wandanschläge über anstehende Exekutionen studiert. Doch es ist keine Vergangenheitsbewältigung, die Li hier betreibt.

„Erst wenn alle Fragen gestellt sind, habe ich einen Plan und schreibe die erste Zeile“, verriet Bestseller-Autor Ken Follett im FR-Interview (25.01.10). Yiyun Li dürfte ähnlich vorgehen;  wie sonst hätte sie diesen „Junior-Klassiker“ (The Independent) derart gekonnt komponieren und orchestrieren können? Sie muss sich eine Vielzahl von Fragen gestellt haben, bevor sie ihr Kaleidoskop sozialer Befindlichkeiten in der chinesischen Provinzstadt in Romanform goss. Wie bewältigen junge, marginalisierte Menschen den Übergang ins Erwachsenenleben? Wie erleben Menschen den Prozess des Alterns, wenn traditionelle Rollen aufbrechen und alles, was ihnen gestern noch Halt gab, wegbricht? Wie gehen Menschen vom Land mit der Arroganz der Städter um?

Starke Frauen liegen Li ebenso am Herzen wie soziale Randfiguren. Da ist Frau Gu, die sich von der gutmütigen, braven Ehefrau in eine politische Aktivistin verwandelt. Dann Kai, die erfolgreiche Radiosprecherin, Gattin eines hohen Kaders und Mutter eines kleinen Sohns, die um ihres Gewissens willen aus der bequemen Routine ausbricht, vom angehimmelten, doch gesichtslosen Ideal zum persönlichen Vorbild für Tausende mutiert, als sie eine Führungsrolle bei der Solidaritätskundgebung für die Oppositionsbewegung „Mauer der Demokratie“ übernimmt – und dafür über Gebühr bestraft wird. Und Frau Hua, die großartige „Mutter“ von sieben Findeltöchtern und Straßenkehrerin, die am Ende ihren Mann überredet, das Wanderleben als Bettler wieder aufzunehmen, weil ihr unerträglich ist, wie die Menschen in Hun Jiang über einander herfallen. Das Ehepaar Hua bietet in seinem humanistischen Engagement und der gegenseitigen Achtung und Liebe den einzigen roten Faden der Kontinuität in Lis „Maelström“, obwohl die beiden Ausgestoßene sind, vielleicht gerade deshalb. Ansonsten macht Li es fast zur Regel, dass Sympathieträger wie Lehrer Gu, Unsympathe wie Bashi oder unscheinbare, brave Hausfrauen wie Frau Gu sich im Lauf der Ereignisse in ihr Gegenteil verkehren.

Nicht zuletzt ist Yiyun Lis Buch unerbittliche Anklage gegen ein unmenschliches Regime. Indem sie schildert, wie das Regime Menschen, die kaum wissen, was sie tun, einen ungerechten Prozess macht, mit von vornherein feststehendem Urteil, führt sie Absatz für Absatz Beweis gegen ein diktatorisches, skrupelloses System.

Muss man im Ausland leben, i.e. sowohl Distanz zum Geschehen haben als auch in relativer Sicherheit sein, um in dieser Sensibilität und Konsequenz zugleich schreiben zu können? Ist es zudem von Vorteil, weiblich zu sein, um Menschen so tief ins Herz zu blicken und derart erstaunliche Entwicklungen, positive wie negative, durchmachen zu lassen? Ein Blick auf das Gros der im Herbst 2009 zum China-Auftritt auf der Frankfurter Buchmesse erschienen Bücher lässt das fast vermuten.

Ist Yiyun Li, die Englisch schreibt, ihren eigenen Namen wie auch die ihrer Protagonisten westlichen Gepflogenheiten angepasst hat, die seit fast 15 Jahren im Ausland lebt und arbeitet und damit Erzählweise und Marktgewohnheiten im Westen kennt, noch als chinesische Autorin zu bezeichnen? „English ist die Sprache meines Schreibens“, bekennt sie, auch wenn sie im Alltag viel Chinesisch verwende. Im Klappentext nennt der Verlag sie „eine der vielversprechendsten jüngeren amerikanischen Erzähler“(innen). Der englische Sprachraum tut sich im Allgemeinen leichter mit seinen Englisch schreibenden AutorInnen unterschiedlicher Herkunft. In Deutschland kann ein/e AutorIn in diesem Land geboren und/oder aufgewachsen sein, ausschließlich auf Deutsch schreiben, um doch allein aufgrund des „fremden“ Namens nicht als „deutsche/r AutorIn“ anerkannt zu werden. Es gibt das Konstrukt der „interkulturellen Literatur“, um eine/n SchriftstellerIn als solche/n mit „Migrationshintergrund“ zu markieren, vermeintlich wohlwollend. Li hat ihren ersten Roman über die Kultur und aus der Kultur heraus geschrieben, in der sie aufgewachsen ist. Sie konnte das in dieser Art nur tun, weil sie seit langem im Ausland lebt. Solange in einem Land wie China solche Bücher nicht frei entstehen können und in einem beliebigen Land des sog. Westens von AutorInnen ohne Migrationshintergrund kaum Bücher ohne eurozentrischen Blick erscheinen, mag das Label „interkulturelle Literatur“ zweckdienlich sein. Möge es bald ausgedient haben, alle Literatur wahrhaftig „interkulturell“, global und lokal zugleich, mit gleichberechtigter Achtung für alle Kulturen sein und das Schubladendenken an Bedeutung verlieren.

Yiyun Li: Die Sterblichen. Aus dem Englischen von Anette Grube. Originaltitel: The Vagrants. München: Hanser 2009 (gebunden).

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Sind Särge begehrte Beute, sterben auf Erden noch viele Leute, lautet das Ende einer chinesischen Volksweisheit. Großvater Ding erinnert sich an diesen Spruch, als er in der geplünderten Grabkammer seines jüngsten Sohnes steht. Aus dem Traum gerissen, in dem er eben dieses sah, eilt er zum Friedhof. Für Trauer und Scham hat er längst keine Tränen mehr. Sein Ältester, Ding Hui, war Blutchef im Dorf Dingzhuang, vor zehn Jahren, als alles begann …

Blut als lukrativer Rohstoff, der nie versiegt und selbst den Ärmsten zu Wohlstand verhelfen kann, zugleich als unersetzlicher Lebenssaft, dessen Verkauf im Übermaß oder unter mangelnder Hygiene letztlich den Menschen zu Tode schwächt, war schon Gegenstand für Yu Huas frappierenden frühen Roman Der Mann, der sein Blut verkaufte. Mangelnde Hygiene, Raffgier und Rücksichtslosigkeit der sogenannten Blutchefs, also derer, denen die Koordination der Blutabnahme und Weitergabe der Konserven unterstand, prangerte Yu ebenso an wie die Illusion, mit dem Verkauf des eigenen Lebenssaftes dauerhaft der Armut zu entkommen. Yu flocht sozialpolitische und historische Gegebenheiten seines Landes ein, zeichnete den Weg seines Landes durch die Jahre politischer Wirrungen und Irrungen nach und entwarf zugleich ein überzeugendes Soziogramm der aufstrebenden Kleinstadtbevölkerung.

Yan Lianke dagegen, so renommiert wie geschasst, blieb angesichts nicht nur ihm unerträglicher Realität keine andere Wahl, als sich 2005 einem der großen Skandale seines Landes zu widmen. Das Grauen der Epidemie in den 1990er Jahren, deren Existenz lange totgeschwiegen und deren Ausmaße bis heute geleugnet werden, erlebte er bei Reisen in seine Heimatprovinz Henan aus eigener Anschauung: Aids, „das Fieber“ wie in Unkenntnis zunächst und gewollter Beschwichtigung später die Leute, die Betroffenen auf den Dörfern diese „Geißel der Menschheit“ nennen. Die achte Plage nannte Meja Mwangi seinen Roman über die Tod bringende Immunschwäche, die Teile Afrikas ebenso mit Macht umklammert hält wie Asiens. Während Mwangis Erzählung mit Frauen, die sich engagieren, und einer aufstrebenden Gesellschaft, die sich emanzipiert, allen Widrigkeiten zum Trotz Mut und Hoffnung macht, bleibt Yan nichts als verzweifelte Resignation. „Ich empfand eine solche Hilflosigkeit und Verlorenheit [nach der Niederschrift des Romans], als wäre ich auf einer einsamen Insel mitten im Ozean ausgesetzt worden, wo es weder Tiere noch Pflanzen oder gar menschliches Leben gab“, gesteht Yan „statt eines Nachworts“, bevor er sich in aller Form bei Leserinnen und Lesern entschuldigt „dafür, dass ich ihnen Schmerz bereitet habe“.

Der Traum meines Großvaters ist geprägt von dieser Verzweiflung, dieser melancholischen Resignation Yans, auch wenn er sich literarisch erfolgreich müht, die Lektüre dieses Berichts aus dem Entsetzen erträglich, ja angenehm zu gestalten.

Qiang ist sein Ich-Erzähler, der vor kurzem aus Rache vergiftete 12-jährige Sohn von Blutchef Ding Hui. Qiang liebt seine Familie, sein Dorf, vor allem aber seinen Großvater „Lehrer Ding“, der eigentlich kein Lehrer ist, aber die Schulglocke läuten darf. Lehrer gibt es im Dorf Dingzhuang längst nicht mehr. Wer wollte schon in einem vom „Fieber“ gezeichneten, dem Tod geweihten Dorf verweilen, wäre er nicht aus familiären Gründen dazu gezwungen? Zehn Jahre ist es her, dass der Amtsleiter für Volksbildung ins Dorf kam und mit Versprechungen und Belohnungen dafür warb, Blut zu verkaufen. Das eigene Blut zu verkaufen, scheint allen absurd, schlicht unmöglich, niemand will sich auf den Handel einlassen. Bis eine Werbefahrt ins Musterdorf organisiert wird: dieser einst elendige Flecken mutierte aufgrund des im Bluthandel erworbenen Wohlstands zu einer blühenden Ortschaft mit glücklichen, selbstbewussten Menschen. Ding Hui wittert ein Geschäft und übernimmt als Erster die Aufgabe des Blutchefs. Bald verkauft fast jeder den Lebenssaft, die meisten wiederholt und im Übermaß. Es gibt gutes Geld dafür, das Dorf blüht auf, die ärmlichen Hütten weichen stattlichen Häusern. Ding Hui wird reich und einflussreich und de facto Dorfältester. Bis die ersten das „Fieber“ packt, bis die ersten am Fieber sterben. Noch sucht niemand nach Schuldigen, nur Großvater Ding ahnt, ja, träumt, dass sein eigener Sohn Auslöser der Katastrophe ist: Hat nicht er alle gedrängt, ihr Blut zu verkaufen, immer wieder, und es Dutzenden mit ein und derselben Nadel abgezapft, zudem bald jeden übervorteilt? Er drängt den Sohn, sich förmlich bei allen Erkrankten samt Angehörigen zu entschuldigen. Ding Hui weist das von sich, droht gar dem Vater. Doch, aus Scham wie aus einem diffusen Gefühl der Verantwortung, wird Letzterer aktiv: In der ehemaligen Schule richtet er eine Art Selbsthilfe-Hospiz ein: „Auch wenn der Himmel bald einstürzt, sollt ihr noch ein paar schöne Tage haben“, verspricht er den Infizierten. Und sie kommen, leben unter Großvater Dings sanfter, weiser Führung wochenlang in unverhofftem Frieden. Damit ist zugleich die Ansteckungsgefahr vermindert, wie Großvater Ding wohl weiß. Doch bald entbrennt in dieser kleinen Kommune, was in fast jeder menschlichen Gemeinschaft geradezu unvermeidbar scheint: Streit, Missgunst, es kommt zu Diebstählen. Und bald darauf zum Putsch. Großvater Ding wird abgesetzt, muss mit ansehen, wie sein großartiges „Schulprojekt“ willentlich zerstört wird, wie Bänke, Tafeln, ja, Türen weggeschleppt werden und die überlebenden Infizierten wieder in ihre Familien übersiedeln, wo sie wenig willkommen sind. Und Großvater Ding träumt … Träumt, wie sein Sohn vom Blutchef zum Kreisfunktionär aufsteigt, der vom Staat für Sterbende kostenlos zur Verfügung gestellte Särge verscherbelt und sich eine goldene Nase daran verdient, träumt, wie eben dieser Sohn zuletzt einen noch lukrativeren Verdienst findet: Er arrangiert Totenhochzeiten. Familien verheiraten ihre verstorbenen Kinder gegen Geld und möglichst standesgemäß, „damit sie in der Unterwelt eine Familie gründen“. Großvater Ding ahnt es: Seine Träume sind wahrer als ihm lieb ist.

Großvater Ding in seinem unendlichen Humanismus, seiner Toleranz, seinem ungebrochenen Lebenswillen, den er zu guter Letzt dem Kampf gegen die Umbettung des längst verstorbenen Enkels opfert, ist der eine Lichtblick in diesem Abgrund tiefster Finsternis, der andere ist der Mut seines jüngsten Sohnes Ding Liang. Zunächst aus Übermut und einem unschlagbaren Gespür für Realismus heraus, bald aus Überzeugung und echter Liebe geht er eine Beziehung zu einer anderen Infizierten ein: Lingling, der sehr jungen Ehefrau eines Verwandten. Beide wissen, wie alle anderen auch, um den bevorstehenden Tod und entschließen sich, ihre letzte Zeit gegen alle Widerstände gemeinsam zu verbringen. Wenige Wochen dem Schicksal abgerungenen Glücks sind ihnen vergönnt. Niemand traut sich, es offen zuzugeben, doch in ihrem Willen, aufrichtig zu sein gegen sich selbst wie auch der Gemeinschaft gegenüber und dafür mit Tradition und Ehre zu brechen, werden sie zum Vorbild für Viele.

Autor Yan gönnt niemandem ein Happyend, nicht Liang und Lingling, nicht Großvater Ding, schon gar nicht sich selbst oder der Leserin; er ist zu sehr Realist um Hoffnung zu wecken, wo keine ist. Sein Buch, mit dem er das offizielle Schweigen brach, erschien 2006, durfte aber schon kurz darauf nicht mehr ausgeliefert werden; es ist Klage und Anklage zugleich. Der Zusammenhang zwischen Bluthandel und Aids-Epidemie, so erläutert Übersetzer Ulrich Kautz in seinem kundigen Vorwort, wird mittlerweile auch in China nicht mehr geleugnet; gleichwohl stehen Entschädigungen der Betroffenen bzw. Hinterbliebenen ebenso aus wie offizielle Aufarbeitung und das Zur-Rechenschaft-Ziehen der Verantwortlichen.

Yan zeichnet den rasanten Untergang des fiktiven und doch so realistischen Dorfes brutal und schonungslos nach, das Abholzen der Bäume über Nacht, weil es an Holz für Särge mangelt, ringsum bleibt nur „rote Asche“, die „hoffnungslose Verzweiflung von Wasser in einem ausgetrockneten Brunnen“, die Unvernunft und Unbelehrbarkeit der Menschen, die nach dem Motto „Jeder ist sich selbst der nächste“ leben. „Mit den Menschen starb das Dorf“, heißt es gleich zu Beginn. Bei aller Tragik gibt es unvermutet poetische Sequenzen, wenn Yan seiner Liebe zu Land und Leuten mittels seiner Liebe zur Sprache Ausdruck verleiht. „Die Menschen verstarben sang- und klanglos, wie eine Lampe verlischt. Oder wie Blätter im Herbst vom Baum fallen.“

Yan Lianke (Bild: éditions Picquier)

Sein schriftstellerisches Handwerk erlernte Yan Lianke beim Militär, dem er bis vor wenigen Jahren angehörte, was weder ihn davon abzuhalten vermochte, sich kritisch zu äußern, wo er zum Leiden des Volkes nicht länger schweigen konnte, noch den Staat, unter dessen Fittichen er so lange mit größtem Erfolg schrieb, seine Bücher zu zensieren bzw. gar nicht erst ausliefern zu lassen. So gehörte Yan auch nicht zur offiziellen Delegation beim Gastauftritt Chinas auf der Frankfurter Buchmesse 2009. Seiner Medienpräsenz in Deutschland als Quasi-Dissident tat das keinen Abbruch. „Grotesk ist die Wirklichkeit in China“, sagte er im Interview, „nicht meine Romane“.

Bei Yan geht es längst nicht nur um das unsägliche HI-Virus, um die Folgen mangelnder Aufklärung und Transparenz, um Korruption und Gier. Er hat das realistische Bild einer menschlichen Gemeinschaft mit all ihren Schwächen und – allzu seltenen – Stärken gezeichnet. Einmal mehr belegt er, was Solidarität, Selbstlosigkeit, Aufrichtigkeit, Rücksicht für den Menschen und seine Umgebung bedeuten, vor allem aber, was ihr Mangel bedeutet. Gerade Yans Verzweiflung angesichts des scheinbar unvermeidlichen Desasters fordert, sich auf die eigene Menschlichkeit zu besinnen. Der Traum meines Großvaters ist nicht zuletzt in diesem Sinne ein Aufruf, sich die Devise, nach der Liang und Lingling leben, solange sie noch zu leben haben, täglich ins Gedächtnis zu rufen: „Jeder Tag, den wir am Leben bleiben, ist ein gewonnener Tag“.

Yan Lianke: Der Traum meines Großvaters. Originaltitel: Ding zhuang meng. Aus dem Chinesischen und mit einem Vorwort von Ulrich Kautz. Berlin: Ullstein 2009. ISBN 978-3-550-08749-3. 368 Seiten, gebunden, € 22,90.

In deutscher Übersetzung erschien von Yans zahlreichen Werken bisher lediglich die Politsatire Dem Volke dienen (Berlin 2007), die in China ebenfalls nicht als Buch erscheinen konnte.

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Guo Xiaolu lebte seit zwei Jahren in London, als ihr Roman Stadt der Steine 2004 in englischer Übersetzung erschien. 1999, gerade 26 Jahre alt, war die Schriftstellerin und Filmemacherin zur besten Drehbuchautorin Chinas gekürt worden. Filmen und Schreiben, beides kann sie nicht lassen, auch wenn sie nach jedem abgedrehten Film sagt, das sei ihr letzter gewesen. Das Schreiben liege ihr als Frau näher, aber es sei extrem einsam.

Von tiefster Einsamkeit handelt auch Stadt der Steine. Coral, 28, lebt mit Red in einem 25-geschossigen Betonsilo in Beijing, im Erdgeschoss. Doch es ist nicht nur die Last all der Menschen in den Etagen über ihr, die sie bedrückt. Die Alltagsmonotonie zwischen engen Wohnverhältnissen, zu Gewohnheit gewordener Beziehungsroutine und Job in der Videothek verhindert viele Jahre lang, dass sie sich der Vergangenheit stellt. Dann trifft eines Tages ein Paket ein: Ein Aal, gesalzen und getrocknet, steinhart und riesengroß. Nun kommen Erinnerungen hoch. An das Haus der Großeltern, bei denen sie aufwuchs, in der Piratengasse 13, an ihren Spitznamen „kleiner Hund“, ein guter Name, denn Kinder mit schlimmen Namen verschone der Meeresdämon, will die von Tabus und strengen Reglementierungen geprägte Legende wissen. Ihren wirklichen Namen, „rote Koralle“, benutzt Coral erst, als sie sich zur Abtreibung mit 15 in einer Klinik in der Nachbarstadt einschreibt …

Häuser aus Stein, Wege aus Stein, Steine auf den Dächern, damit sie nicht von den Taifunen fortgerissen werden, ein felsiger Berg im Rücken. Kaum Grün, aber viel Strand und Meer. Frauen und Kinder, die am Strand auf die Heimkehr der Fischer warten. Corals Mutter ist tot, ihr Vater verschwunden, einsam steht sie am Strand, bis die Großmutter aus dem nahen Haus zum Essen ruft. Fischernetze, die sich wie grüne Drachen am Strand räkeln … Die Kindheit ist einsam, die Großeltern hassen sich, als Ortsfremde bleibt die Großmutter isoliert, auch in der eigenen Familie.

Mit sieben erlebt Coral ihr Schicksalsjahr, der Großvater nimmt sich das Leben, der unheimliche „Stumme“ macht sich brutal über sie her. „Es war immer mein Traum, wie einer dieser rot-orange leuchtenden Seesterne zu werden, der keine Gefühle, keine Erinnerung und keinen Schmerz kannte. Und selbst wenn ich Schmerz empfinden würde, könnte ich als Seestern wenigstens meine eigenen Artgenossen verschlingen“, erinnert sich Coral später. Sie aber bleibt mit Schmerz und Scham allein, während die Großmutter nach dem Tod des Großvaters aufblüht: „Sie machte sich keine Hoffnungen, aber auch keine Sorgen.“ Sie bringt es zur Meisterschaft in der traditionellen Handwerkskunst der Stadt der Steine, die eigentlich Stadt der Fische heißen müsste, erhält späte Anerkennung mit ihren kunstvoll aus Fischgräten gebastelten Vögeln. Dann stirbt auch die Großmutter, Coral ist allein. In der Schule geht sie eine romantische Beziehung zu einem jungen Lehrer ein. Als sie schwanger wird und die halbe Stadt von der folgenden Abtreibung erfährt, muss sie die Schule verlassen. Als habe sie nichts anderes erwartet, nimmt sie es hin und geht nach Beijing.

Über zehn Jahre später weigert sie sich, den unverhofft von Unbekannt gesandten Aal einfach zu entsorgen. Sie nimmt ihn an, wie sie auch beginnt, die Vergangenheit anzunehmen. Der durchdringende Fischgeruch lässt ihr kaum eine andere Wahl. Am Ende des Aal-Sommers steht ein Mann vor Corals Tür. Ihr Vater, todkrank. Coral weiß kaum, wie ihr geschieht, hatte sie doch den Vater für tot gehalten. Am nächsten Tag stellt sie fest, dass sie schwanger ist. Schon ist der Abbruch geplant, schlägt Red vor zu heiraten. Auf einen Schlag scheint alles möglich. Red nimmt einen Job an, Coral begleitet den Vater in seinen letzten Stunden im Krebsspital. Bevor das Kind kommt, zieht das junge Paar in einen grünen Vorort. Coral will nun nach all den Jahren noch einmal in die Stadt der Steine. Verbitterung und Hass, die Coral ihr junges Leben lang mit sich herumgetragen hat, lösen sich auf. Nun kann sie sich versöhnen mit der Stadt, mit den Großeltern, mit dem Vater – und in eine lichte Zukunft blicken.

„Coral is my double in my real life“, bekennt Guo im Interview 2004. Zuerst sollte es eine Liebesgeschichte werden, doch eine Beziehung zwischen einer Chinesin und einem westlichen Ausländer sei in China noch immer ein Tabu, eine solche Publikation unmöglich. So rückte die Beziehung zwischen Coral und Red in den Hintergrund. Der Aal symbolisiere eine Vergangenheit, die keine Flucht erlaube, „weil sie zu schwer zu verdauen ist.“

Es war der Zusammenklang wunderschöner Prosa mit einer zeitgenössischen weiblichen Stimme Chinas, die Guos Londoner Lektorin, Rebecca Carter, überzeugte. Während chinesische Filme international preisträchtig gehandelt werden, habe chinesische Literatur es im Westen nach wie vor schwer. Das sei, so Carter, nicht nur eine Frage qualifizierter Übersetzung, sondern gründe vor allem in den unterschiedlichen Erzähltraditionen und extrem verschiedenen Kulturen. „Chinesen müssen über ihren Schmerz reden“, meint Guo, das sei der langen finsteren Vergangenheit geschuldet. „Sie reden kaum über ihre Träume, Freuden und Hoffnungen.“ Das mag erklären, warum chinesische Literatur oft so brutal und düster anmutet. Guo aber zeigt, trotz des harten Schicksals des Mädchens Coral, dass es auch anders geht. Sie spricht nicht von Hoffnung, sie verpackt sie in Metaphern. Die chinesische Literatur habe den LeserInnen in aller Welt viel zu bieten, meint Guo. Sie in den Westen zu vermitteln, hält sie für einen Bestandteil ihrer Mission. Dem mag es geschuldet sein, dass ihre Protagonistin Coral nur mit diesem englischen Namen auftaucht und Guo selbst für den Westen ihren Namen umgestellt hat. Steht auf der französischen Übersetzung noch Guo Xiaolu, erschien Stadt der Steine in England und Deutschland unter Xiaolu Guo, was die Verwirrung über chinesische Namen hierzulande komplett macht.

In England, wo sie lebt, seien die Leute mehr an Indien als an China interessiert, in Frankreich hingegen mehr an China, hat Guo festgestellt. Und in Deutschland?

Xiaolu Guo: Stadt der Steine. Aus dem Englischen von Anne Rademacher. München: Albrecht Knaus 2005. (Taschenbuchausgabe Goldmann 2007)

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Xu Xings Roman Und alles, was bleibt, ist für dich ist eine Art Road-Geschichte mit Anklängen an den europäischen Schelmenroman, denn der Autor lässt seinen in vielen Zügen autobiographischen Ich-Erzähler ständig unterwegs sein, auf der Suche nach einem besseren Leben, nach Liebe und Freundschaft, ohne Chance jedoch, jemals anzukommen. Xu stilisiert das Ganze nicht, wie zu erwarten wäre, zu einem „Der Weg ist das Ziel“. Ganz im Gegenteil, Welt, Menschheit, Systeme, alles, alles bleibt ihm fremd, nirgends füllt er mehr als seinen Magen, und auch den nur mit Mühe. Xus erster Roman erinnert an Kerouacs On the road mit der lyrischen Rhetorik der Verzweiflung des Ferdinand Bardamu in Célines Reise ans Ende der Nacht.

Es geht los mit einer Radtour durch Südchina, zunächst allein, dann mit Freund Xi Yong. Schon auf dieser Tour zieht der Ich-Erzähler sein Fazit: „Das einzige, was für mich außer Zweifel steht: Es bleibt einem nichts, egal, wo man ist.“ Doch wieder will er „losziehen, auf die Suche nach dem Sinn meines Lebens“. Als Xi Yong seine Anstellung verliert, angesteckt von des Freundes Vagabundenleben, organisiert die Mutter einen Job für ihn: Bei einer „Großtante“ in einem China-Restaurant in Deutschland. Xi geht dorthin und lässt sich monatelang nach Strich und Faden ausbeuten, bevor er mit den Ersparnissen der Tante durchbrennt – und den Freund drängt, zu ihm kommen. Der Erzähler beantragt Pass und Visum und nutzt die Zeit für einen Besuch in Tibet, „wo er mehr über Einsamkeit erfährt, als ihm lieb ist“. Er erkennt, die letzten Jahre „zwischen Traum und Trunkenheit, Tod und Leben“ verbracht zu haben. Die Pekinger Künstlerszene entlarvt er kurzerhand als pseudoambitionierten Sumpf gescheiterter Existenzen. Dann endlich reist er nach Deutschland, kommt in Frankfurt an, wo Freund Xi und dessen Freund Stirblangsam (ein deutscher Sinologe, dessen Name Manders chinesisch ausgesprochen „stirb langsam“ bedeutet) ihn abholen. Er kommt bei Xi unter. Der geht zwei Jahre lang jeden Morgen fröhlich Brötchen holen, bis die blonde Bäckersfrau offensichtlich schwanger ist und damit Xi in schlimmste Depressionen stürzt. Der Erzähler arbeitet in einer Fabrik und erlebt das typische Gastarbeiterdasein: „Pechvögel aus aller Welt“ trifft er hier. Zu dritt fährt man nach Berlin, vor dem Mauerfall, verpasst jedoch auch hier das „wahre Leben“. Als Xi Yong bei einem Unfall ums Leben kommt, hält den Erzähler nichts mehr in Deutschland. Im Sinne des „Ennui“ vom Westen gelangweilt und enttäuscht, geht er nach Peking zurück. Doch auch hier gelingt es ihm nicht, Fuß zu fassen. „Abschaum sind wir“, ist seine so bittere wie zynische Bilanz. Die schönen Dinge und Plätze findet er immer schon vergeben.

In China hat Xu Xing, der sich zugleich als Dokumentarfilmer und Videokünstler einen Namen machte, nicht erst seit diesem Roman Kultstatus. Sein Stil, avantgardistisch, wohltuend selbstironisch, mit nie versiegendem Sinn für Humor, kritisch und doch gewitzt sich weigernd, Stellung zu beziehen, gilt der jüngeren Kulturszene als Vorbild.

In ihrem Nachwort beschreibt Irmy Schweiger Xu als „gefeiert und verfemt“. Er zeige auf, dass es multiple Weltsichten und Lebensformen gibt, schaffe aber zugleich den Typus eines Nichtsnutzes und Herumtreibers, der „weder zur Revolution noch zur gesellschaftlichen Modernisierung“ tauge. „Unterwanderungen einer aufklärerischen Vernunft“ nennt sie seine Texte.

Xu lässt sich und seine Protagonisten treiben, getreu der taoistischen Maxime der Indifferenz und des Nichthandelns. Sein Verzicht auf Pathos und Engagement, seine sympathische Offenheit den eigenen Schwächen gegenüber verbunden mit „Frechheit und Witz, gepaart mit der Weisheit der Ahnen,“ machen den chinesischen Schelm zur vergnüglichen Lektüre, die ganz nebenbei eine Menge Klischees über China, Chinesen und chinesische Literatur über den Haufen wirft.

> Xu Xing: Und alles, was bleibt, ist für dich. Aus dem Chinesischen von Irmy Schweiger und Rupprecht Mayer. Mit einem Nachwort von Irmy Schweiger. München: SchirmerGraf Verlag 2004 (Taschenbuch bei Fischer 2005).

> Interessante Links zum Thema: Xu Xing gehörte nicht zur offiziellen chinesischen Delegation auf der Frankfurter Buchmesse, seine jüngeren Werke können in China derzeit nicht erscheinen. Die taz führte im Vorfeld der Buchmesse ein Interview mit ihm.

Tinius las Xu Xings Roman schon 2007.

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Im Dorf Fengyang wird dem Grundbesitzer Liu Laoxia ein zweiter Sohn geboren, dessen Vater offenbar ein anderer ist: der Verwalter Chen Mao.

Der Fokus liegt zunächst auf Yanyi, dem älteren, aber geistesgestörten Sohn Lius, der nur zwei Sätze spricht: „Ich habe Hunger“ und „Ich bring dich um“. Hefeklöße versteckt man ebenso vor ihm wie Messer. Irgendwann hat er doch eins in der Hand und geht damit ausgerechnet auf den jüngeren Bruder Chencao los. Der ist frisch vom Internat heimgekehrt und leidet schwer am allgegenwärtigen Mohnduft. Denn neben Reis ist es längst der Schlafmohn, das Opium, mit dem Familie Liu ihren Wohlstand sichert. Doch nicht Yanyi bringt den Bruder um, sondern dieser ihn. Er fasst es kaum, wie er auch kaum wahrnimmt, dass seine Schwester den Banditen ausgeliefert wird, um ihn selbst zu retten. Halb benommen ist er ebenso, als bald darauf der alte Liu ihm das Gut übergibt. Statt es mit eiserner Hand zu führen und zu mehren wie seine Vorfahren, verteilt er das Land an Pächter, nimmt halbwegs die kurz darauf einsetzende Landreform vorweg. Sein leiblicher Vater Chen Mao steht längst auf Seiten der Revolutionäre, auch wenn es ihm nur um den eigenen Vorteil geht, und um Frauen. Chencao ahnt, dass dieser verhasste Mann sein Vater ist, und doch zögert er nicht, als die Schwester ihm befiehlt: „Ich gehe Opium pflücken und du tötest Chen Mao.“

Mord, Gewalt, Verrat prägen die Erzählung vom Niedergang der Familie Liu. Su Tong schreibt Die Opiumfamilie halbwegs in Form eines persönlichen Berichts, es gibt da diesen Ich-Erzähler, der die ganze Geschichte offenbar später von Lu Fang erfährt. Lu war 1950 als Brigadeleiter in Fengyang im Einsatz.

Holzschnittartig zeichnet Su das Leben seiner Protagonisten. Kaum wissen sie selbst, was sie tun, wie ihnen geschieht: die Strenge des Grundbesitzers, die Willkür des Banditen Jiang Long, die revolutionären Umwälzungen 1949/50. Ein hartes Buch, das verstört und zugleich empört: Wie können Menschen einander solche Dinge antun? Su Tongs Erzählweise lässt alles zwangsläufig und unausweichlich erscheinen. Wie seine Protagonisten ihrem Schicksal nicht ausweichen können, es merkwürdigerweise auch gar nicht versuchen, kann die Leserin den Band kaum vor dem letzten Wort aus der Hand legen. Ob den Seiten des Romans womöglich der Opiumduft, schwer und betäubend durchzieht er das ganze Buch, entströmt ist?

Su Tong: Die Opiumfamilie. Deutsch von Peter Weber-Schäfer. Reinbek: Rowohlt, 1998 (Taschenbuch 2000).

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Xinran, Die namenlosen TöchterAls „Essstäbchen“ bezeichnen die Leute auf dem Land abwertend Töchter, erst ein Sohn, ein „Dachbalken“, verschafft der Familie Ehre und sorgt dafür, dass die Eltern stolz ihren Platz in der lokalen Hierarchie einnehmen können. Nicht irgendwann in grauer Vorzeit, nein, das China von 2001 ist der Ausgangspunkt von Xinrans Roman Die namenlosen Töchter. Als Sanniu, „Drei“, die dritte der sechs Töchter der Familie Li, die die Kinder der Einfachheit halber durchnummeriert, gegen ihren Willen verheiratet werden soll, bittet sie Onkel Zwei, sie in die Stadt mitzunehmen. In Nanjing am Markt unter der großen Weide bringt der für seine Vermittlungskünste berühmte Guan Buyu sie auf Anraten der Tofu-Frau, die neu vom Land kommende Mädchen gern unter ihre Fittiche nimmt, auch sogleich im Restaurant seines Bruders unter. Drei blüht auf und bringt im nächsten Jahr die beiden jüngeren Schwestern mit in die Stadt: Fünf, ohne jede Schulbildung und im Dorf als dumm abgetan, und Sechs, die einzige Mittelschulabsolventin des Dorfes mit dem hehren Ideal, Bibliothekarin zu werden. Fünf landet im Wasserkulturzentrum, einer therapeutischen Einrichtung, wo sie sich trotz mangelnder Bildung durch ausgeprägte intuitive Fähigkeiten und extremen Lernwillen bald unentbehrlich macht. Sechs wird Bedienung und Haustochter im oppositionellen Literaturcafé „Der glückliche Narr“, wo sie lesen kann, soviel sie will, und durch den Kontakt mit ausländischen Besuchern, den „Langnasen“, sogar beginnt Englisch zu lernen …Xinran, Die namenlosen Töchter (Taschenbuch)

Die zunächst fast naiv anmutende Geschichte von drei jungen Bauernmädchen, die ihr Glück in der Stadt suchen – und finden, mutiert im Handumdrehen zu einem Lehrstück nicht nur über die moderne chinesische Gesellschaft außerhalb trendiger Metropolen, die Verwerfungen zwischen Stadt und Land, sondern auch über staatlich verordnete Um- und Neuschreibung von Geschichte. Zentrales Thema aber bleibt die Frage, wie Menschen zu allen Zeiten versuchen zu überleben, durchzukommen, sich den jeweiligen Umständen anzupassen und das Beste aus ihrem Leben zu machen.

Drei, Fünf und Sechs sind keine fiktiven literarischen Gestalten, Autorin Xinran lernte im Rahmen ihrer journalistischen Tätigkeit zahlreiche Mädchen aus armen Dörfern kennen. Als die Bauern mit der Wirtschaftsreform in den 80ern die Erlaubnis erhielten, sich andernorts, auch in den Städten Arbeit zu suchen, wagten immer mehr „Essstäbchen“-Mädchen den Aufbruch. Xinran ließ sich viele Lebensgeschichten erzählen, drei davon verdichtete sie zu der Erzählung der drei Schwestern in Nanjing.

Ist es dem weiblichen Blick geschuldet, dass dieses Buch Nächstenliebe, Solidarität, zwischenmenschliche Verantwortung und Ehrlichkeit aus allen Poren atmet, die Erzählungen und Romane männlicher zeitgenössischer chinesischer Autoren meist schmerzlich vermissen lassen? In einem Nachwort berichtet die seit 1997 in England lebende Xinran davon, wie sie sich aufmacht, den Spuren der realen Mädchen weiter zu folgen: Drei ließ sich, nach einer enttäuschten Liebe in der Stadt, an eine gute Partie im Dorf verheiraten, Fünf wird vom Wasserkulturzentrum auf Fortbildungskurse geschickt, Sechs spart auf ein Auslandsstudium.

Der Roman aber endet mit dem absoluten Triumph der Töchter. „Könnte es sein, dass unsere Stäbchen-Mädchen in Zukunft unser Dach tragen?“, fragt der Vater. Auf diese Worte hatten die Töchter ihr ganzes Leben gewartet …

Xinran: Die namenlosen Töchter. Aus dem Englischen von Michaela Grabinger. München 2007 (Taschenbuch 2009).

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Su Tong, ReisWelch ein Cover! Die unbedarfte Leserin erwartet eine Liebesgeschichte, Bekenntnisse einer Dame aus der chinesischen Halbwelt, ganz sicher aber eine Frau im Mittelpunkt des Romans …

Su Tong, Autor der insbesondere in der Verfilmung zu Weltruhm gelangten Erzählung „Rote Laterne“, bietet in seinem Debütroman Reis von 1992 nichts von alledem. Su erzählt in erbarmungsloser Offenheit die erschreckende Geschichte vom Aufstieg des Waisenjungen Wulong, dem sein unzerbrechlicher Selbstbehauptungswille eine geachtete gesellschaftliche Position als Schwiegersohn und bald Inhaber einer mäßig gehenden Reishandlung verschafft. Und parallel dazu eine kriminelle Karriere, mit der er zu Geld und Achtung kommt. Hunger ist seine Motivation, Hunger nach Speise zunächst, Reis vor allem, nach Anerkennung, nach Sex, sehr bald nach Rache. Liebe, Zärtlichkeit, Geborgenheit, ja, auch nur gegenseitige Unterstützung oder Achtung innerhalb der Familie, Solidarität, all das sucht die Leserin vergeblich in diesem schonungslosen Portrait einer chinesischen Kleinstadt nahe Shanghai. Ein Kampf ums Überleben, dessen Auslöser nicht in erster Linie Armut ist. Elend und hungrig kam Wulong in der Stadt an, am Ende fährt er als gemachter Mann im eigens gemieteten Waggon voller Reis in sein Dorf zurück, zum Krüppel geworden, zum Mörder, als Ehemann und Vater, den nichts mit seiner Familie verbindet. Der mitreisende Sohn bricht zu „guter“ Letzt Su Tong, Midem sterbenden Vater die Goldzähne aus dem Kiefer … Erträglich wird das alles nur durch die ungeheure Sprachkraft Sus.

Auch Reis ist längst verfilmt – und zweifellos eines der großen Werke der modernen chinesischen Literatur. Jahrelang war ich an diesem Buch vorbeigelaufen, das Cover versprach eine mir wenig verheißungsvolle Lektüre. Neutrale Cover sind im deutschsprachigen Raum für Belletristik derzeit kaum angesagt. Das chinesische Original hält hier das Monopol.  Auch das französische „orientalisiert“, ästhetisiert und minimalisiert aber zugleich. Die beiden englischen Cover dagegen bieten Bezug zum Thema. Su Tong, RiceSu Tong, rice, GoldblattWarum für die deutsSu Tong, Rizchsprachige Ausgabe ein derart irreführendes Cover gewählt wurde, bleibt Rowohlts Geheimnis. Immerhin behielt das Buch weltweit den prägnanten, einem grell aufblitzenden Schlaglicht gleichenden Titel Reis bzw. Rice, Riz (mi – im Mandarin-Original). Die unterschiedlichen Cover aber sprechen Bände.

Su Tong: Reis. Deutsch von Peter Weber-Schäfer. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1998.

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Auch nach dem chinesischen Ehrengast-Auftritt auf der Frankfurter BuFamilienname Wangchmesse steht offenbar so manche/r noch mit chinesischen Namen auf Kriegsfuß. Frau Lingyuan und Herr Yan oder Frau Luo und Herr Mo? Die Aussprache sei hier außen vor gelassen (Hinweise dazu gibt es hier). Ärgerlich für die Leserin aber ist es, wenn BibliothekarInnen und BuchhändlerInnen unsicher in der Identifikation von Vor- und Familiennamen sind und in ein und derselben Einrichtung chinesische AutorInnen mal unter dem Vor-, mal unter dem Familiennamen eingeordnet sind.

Dabei ist es ganz einfach: Der Familienname steht im Chinesischen vorn, es folgt der individuelle Name bzw. Vorname und ggfs. an dritter Stelle der Generationsname.

Luo Lingyuan ist dementsprechend Frau Luo und unter „Luo“ im Regal einzuordnen, auch wenn sie seit 1990 in Deutschland lebt und 2007 den Adelbert-von-Chamisso-Preis erhielt. Das ändert noch lange nicht ihren Familien- in einen Vornamen.

Yu Hua hoffe ich unter Y zu finden, nicht unter H. Sein Buch Brüder ist noch so brandneu, dass es unter Neuerscheinungen steht und BuchhändlerInnen die Qual der Einordnungsentscheidung noch vor sich haben.

Natürlich gibt es Chinesen, die für uns westliche AusländerInnen ihre Namen im Vorhinein anpassen, meist mit einem westlichen Vornamen versehen, wie Emily Wu oder Philip Chen – stopp! Letzterer ist kein Autor, sondern Mitarbeiter vom Fengshui-Detektiv C.F. Wong in den Büchern von Nury Vittachi.

Vittachi wiederum schreibt Englisch und demonstriert eine der prominenten Ausnahmen, ist er doch ein „chinesischer Autor“, der gar kein Chinese ist, sondern aus Sri Lanka stammt. Wie wir es gewohnt sind, ist sein zweiter Name der Familienname, Nury aber der Vorname.

Zu kompliziert? Dann hier noch den einfachsten Fall: Es wird nur ein Name geführt, sei es als Pseudonym oder Verkürzung wie bei Xinran. Die Autorin steht notgedrungen unter X. Ihre Bücher erscheinen nur unter diesem Namen, der eigentlich ihr Vorname ist, heißt sie doch mit vollem Namen Xue Xinran.

Ebenso einfach ist es bei A Lai bzw. Alai. Sein Name besteht im Chinesischen aus zwei Schriftzeichen (阿来), was auf einen Familien- (A) und einen Vornamen (Lai) hindeutet. In allen westlichen Sprachen ist daraus Alai geworden. Dieser tibetisch-chinesische Autor ist, wie man es auch dreht und wendet, stets unter A zu finden.

Außerhalb der Literatur wissen wir alle, dass Ban Ki-moon mit Familiennamen Ban heißt. Also verhält es sich mit der Namensreihenfolge im Koreanischen wie im Chinesischen.

Liebe BibliothekarInnen und BuchhändlerInnen und alle, die Ihr Bücher einsortiert, habt Erbarmen mit uns Lesehungrigen auf der Suche nach chinesischen AutorInnen und ordnet sie konsequent unter dem Familiennamen ein!

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Die ZEIT quizzt, die taz bloggt

Kein Feuilleton kam vor und während der Buchmesse ohne China aus, die ZEIT-online hat sich etwas Besonderes ausgedacht: Ein Quiz mit 11 Fragen “Wie gut kennen Sie Chinas Literatur?” zum Quiz
Los geht es mit einer Frage nach dem chinesischen “Goethe-Institut”, heißt es Laotse-, Konfuzius- oder Mao-Institut? Was das mit Literatur zu tun hat … fragt man sich nicht nur bei dieser Frage. Wie schade, dass bei diesem kleinen interkulturellen Spaß kein Mo Yan, kein Yu Hua, kein Su Tong, nicht einmal ein Yan Lianke vorkommt.
“Lest mehr Chinesen!”, fordert (zu Recht!) Bei Ling, der als Dissident im Exil lebt, im taz-Interview. Das buchmesse.taz-Blog vereint sie alle: Literatur und Politik, Dissidenten und “Offizielle”, reinlesen lohnt sich, auch nach der Messe!

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