Sind Särge begehrte Beute, sterben auf Erden noch viele Leute, lautet das Ende einer chinesischen Volksweisheit. Großvater Ding erinnert sich an diesen Spruch, als er in der geplünderten Grabkammer seines jüngsten Sohnes steht. Aus dem Traum gerissen, in dem er eben dieses sah, eilt er zum Friedhof. Für Trauer und Scham hat er längst keine Tränen mehr. Sein Ältester, Ding Hui, war Blutchef im Dorf Dingzhuang, vor zehn Jahren, als alles begann …
Blut als lukrativer Rohstoff, der nie versiegt und selbst den Ärmsten zu Wohlstand verhelfen kann, zugleich als unersetzlicher Lebenssaft, dessen Verkauf im Übermaß oder unter mangelnder Hygiene letztlich den Menschen zu Tode schwächt, war schon Gegenstand für Yu Huas frappierenden frühen Roman Der Mann, der sein Blut verkaufte. Mangelnde Hygiene, Raffgier und Rücksichtslosigkeit der sogenannten Blutchefs, also derer, denen die Koordination der Blutabnahme und Weitergabe der Konserven unterstand, prangerte Yu ebenso an wie die Illusion, mit dem Verkauf des eigenen Lebenssaftes dauerhaft der Armut zu entkommen. Yu flocht sozialpolitische und historische Gegebenheiten seines Landes ein, zeichnete den Weg seines Landes durch die Jahre politischer Wirrungen und Irrungen nach und entwarf zugleich ein überzeugendes Soziogramm der aufstrebenden Kleinstadtbevölkerung.
Yan Lianke dagegen, so renommiert wie geschasst, blieb angesichts nicht nur ihm unerträglicher Realität keine andere Wahl, als sich 2005 einem der großen Skandale seines Landes zu widmen. Das Grauen der Epidemie in den 1990er Jahren, deren Existenz lange totgeschwiegen und deren Ausmaße bis heute geleugnet werden, erlebte er bei Reisen in seine Heimatprovinz Henan aus eigener Anschauung: Aids, „das Fieber“ wie in Unkenntnis zunächst und gewollter Beschwichtigung später die Leute, die Betroffenen auf den Dörfern diese „Geißel der Menschheit“ nennen. Die achte Plage nannte Meja Mwangi seinen Roman über die Tod bringende Immunschwäche, die Teile Afrikas ebenso mit Macht umklammert hält wie Asiens. Während Mwangis Erzählung mit Frauen, die sich engagieren, und einer aufstrebenden Gesellschaft, die sich emanzipiert, allen Widrigkeiten zum Trotz Mut und Hoffnung macht, bleibt Yan nichts als verzweifelte Resignation. „Ich empfand eine solche Hilflosigkeit und Verlorenheit [nach der Niederschrift des Romans], als wäre ich auf einer einsamen Insel mitten im Ozean ausgesetzt worden, wo es weder Tiere noch Pflanzen oder gar menschliches Leben gab“, gesteht Yan „statt eines Nachworts“, bevor er sich in aller Form bei Leserinnen und Lesern entschuldigt „dafür, dass ich ihnen Schmerz bereitet habe“.
Der Traum meines Großvaters ist geprägt von dieser Verzweiflung, dieser melancholischen Resignation Yans, auch wenn er sich literarisch erfolgreich müht, die Lektüre dieses Berichts aus dem Entsetzen erträglich, ja angenehm zu gestalten.
Qiang ist sein Ich-Erzähler, der vor kurzem aus Rache vergiftete 12-jährige Sohn von Blutchef Ding Hui. Qiang liebt seine Familie, sein Dorf, vor allem aber seinen Großvater „Lehrer Ding“, der eigentlich kein Lehrer ist, aber die Schulglocke läuten darf. Lehrer gibt es im Dorf Dingzhuang längst nicht mehr. Wer wollte schon in einem vom „Fieber“ gezeichneten, dem Tod geweihten Dorf verweilen, wäre er nicht aus familiären Gründen dazu gezwungen? Zehn Jahre ist es her, dass der Amtsleiter für Volksbildung ins Dorf kam und mit Versprechungen und Belohnungen dafür warb, Blut zu verkaufen. Das eigene Blut zu verkaufen, scheint allen absurd, schlicht unmöglich, niemand will sich auf den Handel einlassen. Bis eine Werbefahrt ins Musterdorf organisiert wird: dieser einst elendige Flecken mutierte aufgrund des im Bluthandel erworbenen Wohlstands zu einer blühenden Ortschaft mit glücklichen, selbstbewussten Menschen. Ding Hui wittert ein Geschäft und übernimmt als Erster die Aufgabe des Blutchefs. Bald verkauft fast jeder den Lebenssaft, die meisten wiederholt und im Übermaß. Es gibt gutes Geld dafür, das Dorf blüht auf, die ärmlichen Hütten weichen stattlichen Häusern. Ding Hui wird reich und einflussreich und de facto Dorfältester. Bis die ersten das „Fieber“ packt, bis die ersten am Fieber sterben. Noch sucht niemand nach Schuldigen, nur Großvater Ding ahnt, ja, träumt, dass sein eigener Sohn Auslöser der Katastrophe ist: Hat nicht er alle gedrängt, ihr Blut zu verkaufen, immer wieder, und es Dutzenden mit ein und derselben Nadel abgezapft, zudem bald jeden übervorteilt? Er drängt den Sohn, sich förmlich bei allen Erkrankten samt Angehörigen zu entschuldigen. Ding Hui weist das von sich, droht gar dem Vater. Doch, aus Scham wie aus einem diffusen Gefühl der Verantwortung, wird Letzterer aktiv: In der ehemaligen Schule richtet er eine Art Selbsthilfe-Hospiz ein: „Auch wenn der Himmel bald einstürzt, sollt ihr noch ein paar schöne Tage haben“, verspricht er den Infizierten. Und sie kommen, leben unter Großvater Dings sanfter, weiser Führung wochenlang in unverhofftem Frieden. Damit ist zugleich die Ansteckungsgefahr vermindert, wie Großvater Ding wohl weiß. Doch bald entbrennt in dieser kleinen Kommune, was in fast jeder menschlichen Gemeinschaft geradezu unvermeidbar scheint: Streit, Missgunst, es kommt zu Diebstählen. Und bald darauf zum Putsch. Großvater Ding wird abgesetzt, muss mit ansehen, wie sein großartiges „Schulprojekt“ willentlich zerstört wird, wie Bänke, Tafeln, ja, Türen weggeschleppt werden und die überlebenden Infizierten wieder in ihre Familien übersiedeln, wo sie wenig willkommen sind. Und Großvater Ding träumt … Träumt, wie sein Sohn vom Blutchef zum Kreisfunktionär aufsteigt, der vom Staat für Sterbende kostenlos zur Verfügung gestellte Särge verscherbelt und sich eine goldene Nase daran verdient, träumt, wie eben dieser Sohn zuletzt einen noch lukrativeren Verdienst findet: Er arrangiert Totenhochzeiten. Familien verheiraten ihre verstorbenen Kinder gegen Geld und möglichst standesgemäß, „damit sie in der Unterwelt eine Familie gründen“. Großvater Ding ahnt es: Seine Träume sind wahrer als ihm lieb ist.
Großvater Ding in seinem unendlichen Humanismus, seiner Toleranz, seinem ungebrochenen Lebenswillen, den er zu guter Letzt dem Kampf gegen die Umbettung des längst verstorbenen Enkels opfert, ist der eine Lichtblick in diesem Abgrund tiefster Finsternis, der andere ist der Mut seines jüngsten Sohnes Ding Liang. Zunächst aus Übermut und einem unschlagbaren Gespür für Realismus heraus, bald aus Überzeugung und echter Liebe geht er eine Beziehung zu einer anderen Infizierten ein: Lingling, der sehr jungen Ehefrau eines Verwandten. Beide wissen, wie alle anderen auch, um den bevorstehenden Tod und entschließen sich, ihre letzte Zeit gegen alle Widerstände gemeinsam zu verbringen. Wenige Wochen dem Schicksal abgerungenen Glücks sind ihnen vergönnt. Niemand traut sich, es offen zuzugeben, doch in ihrem Willen, aufrichtig zu sein gegen sich selbst wie auch der Gemeinschaft gegenüber und dafür mit Tradition und Ehre zu brechen, werden sie zum Vorbild für Viele.
Autor Yan gönnt niemandem ein Happyend, nicht Liang und Lingling, nicht Großvater Ding, schon gar nicht sich selbst oder der Leserin; er ist zu sehr Realist um Hoffnung zu wecken, wo keine ist. Sein Buch, mit dem er das offizielle Schweigen brach, erschien 2006, durfte aber schon kurz darauf nicht mehr ausgeliefert werden; es ist Klage und Anklage zugleich. Der Zusammenhang zwischen Bluthandel und Aids-Epidemie, so erläutert Übersetzer Ulrich Kautz in seinem kundigen Vorwort, wird mittlerweile auch in China nicht mehr geleugnet; gleichwohl stehen Entschädigungen der Betroffenen bzw. Hinterbliebenen ebenso aus wie offizielle Aufarbeitung und das Zur-Rechenschaft-Ziehen der Verantwortlichen.
Yan zeichnet den rasanten Untergang des fiktiven und doch so realistischen Dorfes brutal und schonungslos nach, das Abholzen der Bäume über Nacht, weil es an Holz für Särge mangelt, ringsum bleibt nur „rote Asche“, die „hoffnungslose Verzweiflung von Wasser in einem ausgetrockneten Brunnen“, die Unvernunft und Unbelehrbarkeit der Menschen, die nach dem Motto „Jeder ist sich selbst der nächste“ leben. „Mit den Menschen starb das Dorf“, heißt es gleich zu Beginn. Bei aller Tragik gibt es unvermutet poetische Sequenzen, wenn Yan seiner Liebe zu Land und Leuten mittels seiner Liebe zur Sprache Ausdruck verleiht. „Die Menschen verstarben sang- und klanglos, wie eine Lampe verlischt. Oder wie Blätter im Herbst vom Baum fallen.“
Yan Lianke (Bild: éditions Picquier)
Sein schriftstellerisches Handwerk erlernte Yan Lianke beim Militär, dem er bis vor wenigen Jahren angehörte, was weder ihn davon abzuhalten vermochte, sich kritisch zu äußern, wo er zum Leiden des Volkes nicht länger schweigen konnte, noch den Staat, unter dessen Fittichen er so lange mit größtem Erfolg schrieb, seine Bücher zu zensieren bzw. gar nicht erst ausliefern zu lassen. So gehörte Yan auch nicht zur offiziellen Delegation beim Gastauftritt Chinas auf der Frankfurter Buchmesse 2009. Seiner Medienpräsenz in Deutschland als Quasi-Dissident tat das keinen Abbruch. „Grotesk ist die Wirklichkeit in China“, sagte er im Interview, „nicht meine Romane“.
Bei Yan geht es längst nicht nur um das unsägliche HI-Virus, um die Folgen mangelnder Aufklärung und Transparenz, um Korruption und Gier. Er hat das realistische Bild einer menschlichen Gemeinschaft mit all ihren Schwächen und – allzu seltenen – Stärken gezeichnet. Einmal mehr belegt er, was Solidarität, Selbstlosigkeit, Aufrichtigkeit, Rücksicht für den Menschen und seine Umgebung bedeuten, vor allem aber, was ihr Mangel bedeutet. Gerade Yans Verzweiflung angesichts des scheinbar unvermeidlichen Desasters fordert, sich auf die eigene Menschlichkeit zu besinnen. Der Traum meines Großvaters ist nicht zuletzt in diesem Sinne ein Aufruf, sich die Devise, nach der Liang und Lingling leben, solange sie noch zu leben haben, täglich ins Gedächtnis zu rufen: „Jeder Tag, den wir am Leben bleiben, ist ein gewonnener Tag“.
Yan Lianke: Der Traum meines Großvaters. Originaltitel: Ding zhuang meng. Aus dem Chinesischen und mit einem Vorwort von Ulrich Kautz. Berlin: Ullstein 2009. ISBN 978-3-550-08749-3. 368 Seiten, gebunden, € 22,90.
In deutscher Übersetzung erschien von Yans zahlreichen Werken bisher lediglich die Politsatire Dem Volke dienen (Berlin 2007), die in China ebenfalls nicht als Buch erscheinen konnte.
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