„
Hatte ich das Dorf nicht vor vielen Jahren hinter mir gelassen? Warum haben sie mich jetzt hierher zurückgebracht?“, fragt sich die soeben begrabene alte Frau auf dem Friedhof in einem Dorf in Anatolien. Dort finden in nur zwei Tagen gleich drei Beerdigungen statt. Die drei sehr unterschiedlich aus dem Leben geschiedenen Toten kommen mit ihren Geschichten und Hinterbliebenen und treffen im Dorf auf wenige dort verbliebene Alten, und auf einen stadtflüchtigen Aussteiger. Mit Arı Fısıltıları (Das Wispern der Bienen) hat die deutsch-türkische Autorin Menekşe Toprak einen nachdenklich stimmenden Roman zwischen Stadt und Land, zwischen Politik und Sinnsuche, vor allem aber zwischen Leben und Tod vorgelegt.
Da ist Suna, Anfang 20, zunächst auf einem Großstadt-Platz voller Menschen, dann aber beobachtet sie das Geschehen von oben, sieht ihren Freund Deniz, der Wasser für sie holen ging, ruft ihm zu: „Ich bin gar nicht mehr durstig, bleib stehen, lauf nicht weiter!“ Doch er hört sie nicht. Plötzlich steigt eine Gaswolke auf, eine gelbliche Flüssigkeit spritzt, die Menge drängt panisch nach allen Seiten davon.
Deniz, die Frau, der Körper, die roten Flecken, der das Rot absorbierende Gehweg sind nicht mehr zu erkennen. Doch Suna hält Ausschau nach dem unter der Gaswolke verschwindenden Körper. Ihr einziger Gedanke: ihn finden und auf die Beine stellen, mit Deniz dieser Hölle entkommen, in einen Bus steigen …
Es ist nicht explizit genannt, doch die Leserin assoziiert rasch: Suna gehört zu den über einhundert Menschen, die beim Terroranschlag auf die Friedenskundgebung am Bahnhof Ankara am 10. Oktober 2015 ums Leben kamen. Als ruhelose Seele irrt sie umher, auch noch, als ihr Körper bereits im Dorf begraben ist. Wie gern möchte sie ihrem Liebsten noch erzählen, „dass das Leben keineswegs nur ein Ort zum Fürchten ist, vielmehr kann man es lieben, es kann sogar bezaubernd sein, und es liegt in unserer Hand, diesen Zauber zu schaffen.“
Im Dorf wartet derweil eine einheimische Familie auf „ihre Tote“, die alte Zahide, die einst als Arbeitsmigrantin nach Deutschland ging, das Dorf überwunden geglaubt hatte, zur Beerdigung aber dorthin „heim“gebracht wird. „Warum entfachen sie diesen Rauch über mir?“, fragt sie sich, wohl wissend, mit dem Feuer auf dem Grab ist besiegelt, dass sie dort für alle Ewigkeit liegt. Niemand aber ahnt ihre tiefe Einsamkeit.
Überraschend treffen drei Personen mit einem weiteren Toten ein, Olcay, ein junger Student, der sich das Leben nahm und bestimmt hatte, mit Blick auf die Berge hinter dem Dorf begraben zu werden. Seine Schwester und ein Freund erfüllen ihm den Wunsch, ohne ihn wirklich zu verstehen. Sie wenden sich an Nachbar Derviş, der nach Studium und vielen Jahren als Bankangestellter in der Großstadt erst vor Kurzem mit Ehefrau Azime bewusst den Weg ins Dorf zurück gewählt hat, um hier Mandelbäume zu züchten.
Die Erzählung wechselt im Laufe der sieben erzählten Tage zwischen Suna und Dorf mit Derviş im Fokus. Suna geistert ohne Gefühl für Raum und Zeit umher, gerät immer wieder in Szenen der Vergangenheit, wundert sich, warum keiner sie wahrnimmt. Bald hört sie eine ältere Frau rufen, sie zur Ruhe rufen. „Wenn das ein Traum ist“, denkt Suna am fünften Tag, „dann sollte ich endlich aufwachen.“ Es ist kein Traum, sie wacht nicht auf. Postmortales Bewusstsein schildert die Autorin als einen recht diesseitig gedachten Zustand zwischen Traum und Realität.
Im Dorf nimmt Derviş sich der Neuankömmlinge an, träumt und grübelt viel und sieht sich von einem beängstigenden Schemen heimgesucht. Er schaudert, als er plötzlich „als tiefes sicheres Wissen“ empfindet, dass der mit den Zeremonien zweier Religionen begrabene Ungläubige, der nie eine Zeremonie gewollt hat, nun „als Seele oder Gedanke zu den Bergen hinschaut, und etwas ähnliches Anderes von ihm hier in der Gemeinde umgeht und uns zuhört.“ Es dauert lange, bis Derviş, der ganz auf Öko und Nachhaltigkeit setzt, die Stimmen der umgehenden Seelen versteht.
Abends werden nach alevitischem Ritus Feuer an den Gräbern entzündet, wir erfahren manches über Bestattungskultur. Auch dass Helwakochen ein Trost für die Hinterbliebenen sein kann. Gemeinsam mit ihnen können wir uns Gedanken darüber machen, was nach dem Tod geschieht.
Am siebten Tag schließlich geht ein Wind, die Stimmen sind verstummt, die „Siebter-Tag-Speise“ ist verzehrt, das Cem-Haus wird gelüftet, die Seelen haben Ruhe gefunden. Die Beerdigungsgäste sind abgereist, zwei aber wollen im Dorf Fuß fassen und ein Haus bauen. Der Kreislauf dreht sich weiter.
Dann ist da noch de
r emsige Bienenschwarm, das heißt, eigentlich sind es zwei, denn als eine neue Königin schlüpft, schwärmt die alte mit Gefolge aus. Die Bienen stehen für die Natur mit ihrem Kreislaufcharakter, mit ihrem unerbittlichen Leben und Sterben, zu der ja auch die Menschen gehören. Was die Bienen uns Menschen zuflüstern, führt Autorin Toprak im Interview aus:
Vor allem wispern sie von ungerechten Todesfällen zur Unzeit. Als reichte es nicht, dass ihr Menschen euch gegenseitig umbringt und vertreibt, verscheucht ihr auch uns und tötet uns mit euren Giften, eurem Kunststoffleben. Sie wispern auch vom gestörten Gleichgewicht und dass dieses Gleichgewicht nicht allein durch guten Willen einiger Weniger wieder herstellbar. (…) Ihr habt den Kontakt zur Natur verloren, wispern die Bienen, ihr solltet ein paar Dinge von uns lernen.
Was ihre Hauptfigur Derviş erlebt, sei als „unser kollektives Gedächtnis“ lesbar, erläutert Toprak. Mit den drei unterschiedlichen Todesfällen und ihren Geschichten erzähle sie, „was sich unablässig wiederholt und nie an Aktualität verliert.“ Zugleich sei der Roman auch ein Narrativ der „Wiederentdeckung des Landlebens“. Allerdings hätten sich die anatolischen Dörfer im Vergleich zu ihrer Jugend aufgrund „des Einflusses von Fernsehen, Internet, Migration und Remigration, den veränderten Produktionsweisen“ komplett verändert.
Der 2019 mit dem Literaturpreis der Universität Ankara ausgezeichnete Roman ist ein Reflexion über Zugehörigkeit zu Land und Menschen, zum Leben und über das Gewicht des Seins, in das Leichtigkeit sich nur mit Mühe integrieren lässt. Mir scheint, er bildet die seit einigen Jahren vorherrschende Lebensstimmung vieler Menschen in der Türkei ab. Trotz aller Schwere und Melancholie birgt er zum Glück auch Keime für einen neuen Frühling, dafür steht nicht zuletzt der Hochzeitsflug der jungen Bienenkönigin am siebten Tag.
Menekşe Toprak: Arı Fısıltıları (Das Wispern der Bienen). İletişim, Istanbul 2018.
s. auch:
• „Die Klage überwinden“ zu Topraks vorangegangenem Roman Ağıtın Sonu (Die Geschichte von der Frau, den Männern und den verlorenen Märchen)
• Interviews zum Buch: AGOS, Gazete Duvar
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