Häusliche Gewalt gegen Frauen – Leylas Geschichte
Zum 1.7.21 vollzog die Türkei aller Proteste zum Trotz den Ausstieg aus der Istanbul Konvention, dem Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. Quasi „den Roman zum Abkommen“ schrieb die feministisch engagierte Autorin Seray Şahiner 2014: Antabus. Ein Aufschrei gegen die unsägliche Kumpanei in einer männerdominierten Gesellschaft, die allzu vielen Frauen das Leben zur Hölle macht. Mit der Aufkündigung der Konvention hat die türkische Regierung Verhältnisse zementiert wie die „fiktiv-reale“ Geschichte Leylas, die ihren Leidensweg nur durch Suizid beenden zu können glaubte …
Leyla Taşçı (25) sprang in einem Anfall von Wahnsinn mit ihrer kleinen Tochter vom Balkon. Die Obduktion ergab, dass die junge Frau im dritten Monat schwanger war. Die Nachbarn berichten, Leyla Taşçı und ihr Mann hätten sich häufig gestritten, gegen den Ehemann Remzi Taşçı wird ermittelt.
„Sie sah also keinen anderen Ausweg als den Balkon“, murmelt Ülker betroffen, als sie den Zeitungsbericht liest und von der Krankenschwester erfährt, dass die Frau auf dem Foto eben jene Leyla ist, zu der sie sich erst zwei Tage zuvor ans Krankenbett gesetzt hatte. Ülker, ein weiterer bitterer Fall von Flucht vor einem gewalttätigen Alkoholikerehemann, erzählt später auch ihre eigene Geschichte. Wohin kann eine Frau gehen, die mittellos zur Flucht aus dem Haus gezwungen ist? Zurück ins Elternhaus? Nicht, wenn die Ehe arrangiert oder sogar erzwungen war (wie bei Leyla). Alle offiziellen Wege, womöglich auch das Frauenhaus, würden den Ehemann auf ihre Spur führen. Ülker setzte sich in die Notaufnahme und machte sich peu à peu das Krankenhaus zum neuen Zuhause: als leidlich geduldete inoffizielle, „ehrenamtliche Begleitperson“ (in türkischen Kliniken üblich und erwünscht, diese übernachten bei dem/der Patient*in und werden mitverpflegt).
Als Ülker die Seite 3, üblicherweise die Revolver-Seite in den türkischen Blättern, mit der Meldung umblättern will, ergreift Leyla selbst das Wort und bittet die Leserin, nicht einfach umzublättern. Denn nun erzählt sie ihre Geschichte: In der vor ein paar Jahren aus dem Dorf nach Istanbul migrierten Familie unterdrückt, vom Vater verprügelt, auf Anraten des Onkels in einen Konfektionsbetrieb gesteckt, vom angeschwärmten Vorarbeiter an der Nase herumgeführt und sitzengelassen, vom Chef missbraucht … Die Familie nimmt sein Schweigegeld und verkauft das junge Mädchen buchstäblich an einen älteren Witwer. Leyla wehrt sich nicht, denkt, schlimmer kann es ja nicht kommen. Kommt es aber. Der Mann ist ein Säufer, der sie schlägt, einsperrt, vergewaltigt. Ungewollt bringt sie eine Tochter zur Welt. Weit entfernt von dem im Fernsehen propagierten „idealen Umfeld mit positiver Energie“, versucht Leyla nun, wenigstens die Tochter zu schützen, hofft um ihretwillen auf einen frühen Tod ihres Mannes. Vergebens. So „wählt“ sie schließlich den Balkon.
Hier könnte die Geschichte enden, doch ein Reset beschert uns zwei weitere Jahre, wieder durch eine Zeitungsmeldung eingeleitet. Diesmal ersticht Leyla (nunmehr 27) ihren „alkoholisiert heimkommenden, die Kinder und sie prügelnden Ehemann.“ Wie es dazu kam, erzählt sie wiederum selbst. Zunächst erschwindelt sie sich einige erträgliche Monate, indem sie dem Mann vorgaukelt, mit einem Sohn schwanger zu sein. Stolz plant er das Leben des ungeborenen Stammhalters, Leyla strickt blaue Babysachen. Als der vermeintliche Sohn jedoch als Tochter zur Welt kommt, wird alles nur umso schlimmer. Leyla versucht ein Trennungsgespräch nach Fernsehvorbild, der Gatte schlägt sie nieder. Einen Hauch von Freiheit – sie darf die Kinder zum Arzt und zur Schule bringen – erkämpft sie sich, indem sie sich in der Elternarbeit engagiert.
Dann empfiehlt Leidensgenossin Ülker, dem Alkoholiker-Mann ein Entwöhnungsmittel zu geben: Antabus. Die Autorin zaubert einen lebendigen Dialog zwischen Beipackzettel und ihrer Heldin, eine im nachfolgenden Roman Kul noch verfeinerte Methode. Leyla mischt das Medikament unter sein Essen, hofft, es möge nützen, bangt aber zugleich, ungewollt zur Mörderin zu werden, weil er trotz Gegenanzeige bei Einnahme unvermindert weiter trinkt.
Seit Ayşe geboren ist, denke ich, sobald ich den Kopf aufs Kissen bette: Mein Gott, wie lange lebt dieser Mann denn noch? Als das zweite Kind zur Welt kommt, wächst meine Sorge weiter. Wenn Remzi nicht stirbt … flüchte ich aus dem Haus und ende als Dirne oder bringe den Mann um und ende als Mörderin. Oder der Mann bringt uns eines Tages um oder wir legen Hand an uns, um ihn loszuwerden … Remzi stirbt einfach nicht.
Nein, weder stirbt der Mann noch bessert sich irgendetwas. Leyla weiß sich nicht anders zu helfen, als Schlaftabletten zu nehmen. Sie sediert sich immer stärker, bis sie kaum noch wach ist, nichts mehr auf die Reihe kriegt und soweit verlottert, dass die kleine Tochter die ungeliebte Oma zu Hilfe ruft. Leyla blafft: „Wärest du eine wahre Mutter gewesen, wäre ich nicht in diese Lage gekommen.“ Sie will ihr die Kinder mitgeben, da ergreift die Mutter schleunigst die Flucht. Als die Schlaftabletten aufgebraucht sind, trifft Leyla auf dem Weg zur Apotheke wieder einmal Ülker, die Leyla nach anfänglichem Naserümpfen über ihre Verfassung nach Hause begleitet, entsetzt über den Zustand der Wohnung ist, dann aber mit der kleinen Ayşe zusammen aufklart und Leyla gehörig auf den Pott setzt, als die sich in eine Depression flüchten will:
Bei Mutterschaft gibt es kein Zurück. Hast du einmal Kinder, musst du dich gebührend um sie kümmern. (…) Depression ist ein Leiden für die Reichen, Mädchen! Das steht uns nicht zu. Wir dagegen kriegen Krebs, Tuberkulose, Magengeschwüre … Bist du etwa die einzige, die misshandelt wird? Bei anderen sind nur die Mauern dicker, ihre Stimmen hörst du nicht …
Leyla reißt sich zusammen, doch den geplanten Neuanfang machen prompt die Umstände zunichte. Nun plant sie, Remzi zu verlassen, und spart darauf. Bis er es entdeckt, ihr alles nimmt, den Schrank auf sie kippt und sie, frisch aus dem Krankenhaus entlassen, erneut einsperrt. Es kommt zum Showdown, als er sie im Suff der Undankbarkeit zeiht, das Baby auf den Boden wirft und mit ihrer Stricknadel auf sie losgeht. Ihr bleibt nur Notwehr: „Ich hob das vom Tisch gefallene Brotmesser auf …“
Die Kleine schreit. Remzi liegt auf dem Boden. Blutüberströmt. Ich taste nach seinem Herzen. Er ist tot. Ayşe guckt und guckt. „Ist er tot?“, fragt sie. „Ja“, sage ich. Sie schweigt. Sie weint nicht einmal. Ich scheiße auf die positive Energie im Haus.
Das Gericht spricht sie frei, jetzt muss ein Neuanfang klappen. Den aber vereiteln die Medien, die bereits ihr Bild und ihren Namen veröffentlicht haben … Zum Schluss wendet Leyla sich resigniert an die Leserin: „Jetzt können Sie umblättern.“
Ich schlage das Buch zu und denke: Schlimme Zustände! Schlimm vor allem, dass die Frauen praktisch allein sind, allein gelassen werden bei häuslicher Gewalt. An mehreren Stellen legt die Autorin Leyla Hilferufe in den Mund bzw. zeigt Möglichkeiten auf, wer helfen könnte: Nachbar:innen, Krankenschwestern, die Herkunftsfamilie … „Könnte dieser Mann mich dermaßen quälen, wenn meine Leute sich kümmern würden?“ Dass selbst die Mutter die Tochter beschimpft und nötigt, mit Mann und Haushalt allein zurechtzukommen, ist leider keine Ausnahme. Es gibt eine starke Frauenbewegung in der Türkei, in den größeren Städten auch Frauenhäuser. In den kurdischen Regionen kommunal aufgebaute Strukturen zur Unterstützung von Frauen wurden allerdings mit Einsetzung der Zwangsverwalter durch Erdoğans AKP-Regierung in den letzten Jahren systematisch zerstört. Noch schlimmer wurde alles im Corona-Lockdown, allein im März 2020 stieg häusliche Gewalt gegen Frauen im Vergleich zum Vorjahresmonat um 38%. „Das Patriarchat ist tödlicher als Corona“, lautete der Slogan der Frauenbewegung 2020.
Männer haben in der Türkei in den vergangenen elf Monaten nach offiziellen Angaben 318 Frauen umgebracht – fast jeden Tag also tötet ein Mann eine Frau. Der Plattform Wir werden die Frauenmorde stoppen zufolge gab es 2019 430 Femizide. Auch in diesem Jahr sagten Menschen: „Was suchte sie zu dieser Zeit auf der Straße?“ Die Medien gaben den Frauen, die von Männern getötet wurden, die Schuld dafür. Männer, die eine Frau umgebracht hatten, bekamen vor Gericht milde Haftstrafen wegen „guter Führung“. Auch dieses Jahr haben Männer Frauen vergewaltigt, sie haben Frauen auf der Straße, zu Hause, in der Schule und bei der Arbeit belästigt. (Beyza Kural: „Wenn Frauennamen Hashtags werden“, 27.12.2019)
Seray Şahiners Antabus ist ein Roman, Fiktion ist er leider nicht. Vielmehr bildet er lebendig und aus der Sicht der betroffenen Frau ab, wie die „traditionellen Familienstrukturen“ und „Gender-Vorstellungen“ der türkischen Mehrheitsgesellschaft aussehen, die die Regierung durch die Istanbul-Konvention gefährdet sieht. Auch mit dem Abkommen würden sich diese Strukturen wohl nicht so schnell ändern, damit aber hätten misshandelte Frauen immerhin auf dem Papier ein Recht auf Schutz.
Seray Şahiner: Antabus. Roman. Can Yayınları, Istanbul 2014. Neuauflage: Everest, Istanbul 2019.
• „Türkische Frauen wollen ihre Rechte nicht verlieren“, Interview mit der feministischen Juristin Canan Arın (von Ceyda Nurtsch, 28.06.21)
• Beyza Kural: “Frauen leben gefährlich in Quarantäne” (2020)
• Beyza Kural: “Wenn Frauennamen Hashtags werden” (2019)
• Sabine Adatepe: Hasst die Türkei ihre Frauen? (2016)
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