Frühlingsanfang 1979 in der jungen chinesischen Industriestadt Hun Jiang. Ein trauriges Datum für Ehepaar Gu. Auf diesen Tag ist die Hinrichtung ihrer Tochter Shan angesetzt. Lehrer Gu ist geneigt, die Tochter für schuldig zu halten. Ihr Wandel vom einen Extrem ins andere, von der bis zum Gewaltexzess hin fanatischen Jugendaktivistin der Kulturrevolution zur geächteten Konterrevolutionärin, bleibt ihm unverständlich, wie er sich auch allgemein unverstanden fühlt in diesem Provinznest unter ungebildeten Arbeiter. Frau Gu dagegen packt eine Tasche mit Kleidern, um sie dem alten Totenritual entsprechend zu verbrennen, damit die Tochter im Jenseits nicht darbe …
Ein dramatischer Einstieg in eine vielschichtige Tragödie, die die Leserin bis zur letzten Seite in Atem hält. Mit Die Sterblichen von 2009 legt Yiyun Li ihren ersten Roman vor. Aufgewachsen ist die amerikanisch-chinesische Autorin in Beijing, lebt aber seit 1996 in den USA, wo sie u.a. Creative Writing lehrt und mit Kurzgeschichten und Essays bereits einige Aufmerksamkeit erregte. Nun also ein fulminantes Romandebüt, das inhaltlich wie handwerklich überzeugt. Li jongliert mit einer Vielzahl von Personen und Handlungssträngen, die sie gekonnt ebenso überraschend wie scheinbar zwangsläufig verknüpft.
Kaum ein Thema der postmaoistischen chinesischen Gesellschaft, das Li nicht anpackt, ohne dass ein Gefühl der Überfrachtung aufkäme: Organhandel, Korruption des Staatsapparats, das Drama ausgesetzter weiblicher Babys, die Geringschätzung von Töchtern und Frauen durch alle Schichten, politische Winde, die schneller drehen, als der gesunde Menschenverstand es zu fassen vermag. Die Menschen führten ein Leben, schreibt Li, „das sie selbst nicht verstanden“. Mancher lässt sich aus Berechnung oder Unverstand zu Handlungen verleiten, die anderen und am Ende immer auch ihm selbst größten Schaden zufügen. So der beflissene Schüler Tong, der auf einer Kundgebung den Namen seines Vaters unter eine Deklaration setzt und damit die Familie ins Unglück stürzt. Oder Bashi, der selbstgefällige junge Mann an der Grenze zum Wahnsinn, der sich in die viel zu junge Nini verliebt, obwohl er sie eigentlich nur benutzen wollte. Allein um sich aufzuspielen, denunziert er die halbe Stadt und endet, verfemt als Mädchenschänder, selbst im Gefängnis. Helden wollen sie alle sein oder werden von anderen zu Helden stilisiert, „Helden der Revolution“, traurige Helden. „Für mich war dieser Roman ein Weg, Heldentum zu hinterfragen“, äußerte Li im Interview 2008. Sie sei in einer solchen Kultur, wie sie im Buch geschildert ist, in Beijing aufgewachsen, habe als Kind selbst Denunziationsinszenierungen erlebt, habe mit der Mutter täglich die Wandanschläge über anstehende Exekutionen studiert. Doch es ist keine Vergangenheitsbewältigung, die Li hier betreibt.
„Erst wenn alle Fragen gestellt sind, habe ich einen Plan und schreibe die erste Zeile“, verriet Bestseller-Autor Ken Follett im FR-Interview (25.01.10). Yiyun Li dürfte ähnlich vorgehen; wie sonst hätte sie diesen „Junior-Klassiker“ (The Independent) derart gekonnt komponieren und orchestrieren können? Sie muss sich eine Vielzahl von Fragen gestellt haben, bevor sie ihr Kaleidoskop sozialer Befindlichkeiten in der chinesischen Provinzstadt in Romanform goss. Wie bewältigen junge, marginalisierte Menschen den Übergang ins Erwachsenenleben? Wie erleben Menschen den Prozess des Alterns, wenn traditionelle Rollen aufbrechen und alles, was ihnen gestern noch Halt gab, wegbricht? Wie gehen Menschen vom Land mit der Arroganz der Städter um?
Starke Frauen liegen Li ebenso am Herzen wie soziale Randfiguren. Da ist Frau Gu, die sich von der gutmütigen, braven Ehefrau in eine politische Aktivistin verwandelt. Dann Kai, die erfolgreiche Radiosprecherin, Gattin eines hohen Kaders und Mutter eines kleinen Sohns, die um ihres Gewissens willen aus der bequemen Routine ausbricht, vom angehimmelten, doch gesichtslosen Ideal zum persönlichen Vorbild für Tausende mutiert, als sie eine Führungsrolle bei der Solidaritätskundgebung für die Oppositionsbewegung „Mauer der Demokratie“ übernimmt – und dafür über Gebühr bestraft wird. Und Frau Hua, die großartige „Mutter“ von sieben Findeltöchtern und Straßenkehrerin, die am Ende ihren Mann überredet, das Wanderleben als Bettler wieder aufzunehmen, weil ihr unerträglich ist, wie die Menschen in Hun Jiang über einander herfallen. Das Ehepaar Hua bietet in seinem humanistischen Engagement und der gegenseitigen Achtung und Liebe den einzigen roten Faden der Kontinuität in Lis „Maelström“, obwohl die beiden Ausgestoßene sind, vielleicht gerade deshalb. Ansonsten macht Li es fast zur Regel, dass Sympathieträger wie Lehrer Gu, Unsympathe wie Bashi oder unscheinbare, brave Hausfrauen wie Frau Gu sich im Lauf der Ereignisse in ihr Gegenteil verkehren.
Nicht zuletzt ist Yiyun Lis Buch unerbittliche Anklage gegen ein unmenschliches Regime. Indem sie schildert, wie das Regime Menschen, die kaum wissen, was sie tun, einen ungerechten Prozess macht, mit von vornherein feststehendem Urteil, führt sie Absatz für Absatz Beweis gegen ein diktatorisches, skrupelloses System.
Muss man im Ausland leben, i.e. sowohl Distanz zum Geschehen haben als auch in relativer Sicherheit sein, um in dieser Sensibilität und Konsequenz zugleich schreiben zu können? Ist es zudem von Vorteil, weiblich zu sein, um Menschen so tief ins Herz zu blicken und derart erstaunliche Entwicklungen, positive wie negative, durchmachen zu lassen? Ein Blick auf das Gros der im Herbst 2009 zum China-Auftritt auf der Frankfurter Buchmesse erschienen Bücher lässt das fast vermuten.
Ist Yiyun Li, die Englisch schreibt, ihren eigenen Namen wie auch die ihrer Protagonisten westlichen Gepflogenheiten angepasst hat, die seit fast 15 Jahren im Ausland lebt und arbeitet und damit Erzählweise und Marktgewohnheiten im Westen kennt, noch als chinesische Autorin zu bezeichnen? „English ist die Sprache meines Schreibens“, bekennt sie, auch wenn sie im Alltag viel Chinesisch verwende. Im Klappentext nennt der Verlag sie „eine der vielversprechendsten jüngeren amerikanischen Erzähler“(innen). Der englische Sprachraum tut sich im Allgemeinen leichter mit seinen Englisch schreibenden AutorInnen unterschiedlicher Herkunft. In Deutschland kann ein/e AutorIn in diesem Land geboren und/oder aufgewachsen sein, ausschließlich auf Deutsch schreiben, um doch allein aufgrund des „fremden“ Namens nicht als „deutsche/r AutorIn“ anerkannt zu werden. Es gibt das Konstrukt der „interkulturellen Literatur“, um eine/n SchriftstellerIn als solche/n mit „Migrationshintergrund“ zu markieren, vermeintlich wohlwollend. Li hat ihren ersten Roman über die Kultur und aus der Kultur heraus geschrieben, in der sie aufgewachsen ist. Sie konnte das in dieser Art nur tun, weil sie seit langem im Ausland lebt. Solange in einem Land wie China solche Bücher nicht frei entstehen können und in einem beliebigen Land des sog. Westens von AutorInnen ohne Migrationshintergrund kaum Bücher ohne eurozentrischen Blick erscheinen, mag das Label „interkulturelle Literatur“ zweckdienlich sein. Möge es bald ausgedient haben, alle Literatur wahrhaftig „interkulturell“, global und lokal zugleich, mit gleichberechtigter Achtung für alle Kulturen sein und das Schubladendenken an Bedeutung verlieren.
Yiyun Li: Die Sterblichen. Aus dem Englischen von Anette Grube. Originaltitel: The Vagrants. München: Hanser 2009 (gebunden).