Wie schreibt ein:e Schriftsteller:in? Das interessiert viele Leser:innen, auch wenn uns allen klar ist, dass jede:r anders schreibt. Stellvertretend für uns neugierige Leser:innen hat die türkische Literaturzeitschrift Edebiyat Atölyesi kürzlich den Bestsellerautor Ahmet Ümit nach seinem Schreibprozess gefragt, ich habe das kleine Interview für euch übersetzt:
Haben Sie eine Schreibroutine? Wie oft schreiben Sie? Schreiben Sie immer am selben Ort?
Normalerweise schreibe ich stets am selben Ort. Früher schrieb ich in meinem Büro in Beyoğlu. Jetzt habe ich ein Zimmer auf der Insel*, dort schreibe ich. Am liebsten schreibe ich morgens gleich nach dem Frühstück, wenn der Kopf klar ist. Ich schreibe am Computer. Was ich vor allem brauche, ist Ruhe. Ich darf nichts sehen oder hören, was mich ablenken könnte. Beim Schreiben trinke ich weder Tee noch Kaffee. Nur Wasser. Manchmal höre ich Musik. So sieht meine Routine aus.
Wovon gehen Sie beim Schreiben aus: von einem Thema, einem Bild oder einer Figur? Wechselt das? Was ist Ihr Anlass?
Das kann ganz unterschiedlich sein. Bei meinem Roman Patasana (Patasana – Mord am Euphrat) hatte ich zum Beispiel die antike Stadt Zeugma gesehen, sie war damals noch nicht ausgegraben. Bei Kayıp Tanrılar Ülkesi [Das Land der verlorenen Götter] hatte ich den Pergamon-Altar gesehen. Früher, als ich meine ersten Erzählungen schrieb, konnte mich auch ein Gefühl oder sogar ein Windhauch zum Schreiben bringen. Aber vor allem bei Thesenromanen muss am Anfang eine Idee stehen. Zum Beispiel wollte ich von den Jungtürken erzählen, deshalb schrieb ich Elveda Güzel Vatanım [Adieu, mein schönes Land]. Und in Kukla [Die Marionette] wollte ich den „Staat im Staat“ schildern.
Schreiben Sie erst alles fertig und überarbeiten dann oder gehen Sie mit Blick auf das schon Geschriebene voran?
Ich schreibe Kapitel für Kapitel. Wenn ein Kapitel fertig ist, überarbeite ich es. Erst wenn ich damit zufrieden bin, mache ich mich an das nächste Kapitel. Und wenn das ganze Buch fertig geschrieben ist, überarbeite ich alles noch einmal. Wenn auch das fertig ist, habe ich eine Gruppe von zwanzig Freunden. Die bitte ich um ihre Meinung. Was ich davon richtig finde, was mich überzeugt, arbeite ich dann ein.
Legen Sie den Stil, die Sprache, den Plot für eine Erzählung oder einen Roman schon von vornherein fest oder erst beim Schreiben?
Da treffe ich von Anfang an eine Entscheidung. Sage mir, in dieser Erzählung oder diesem Roman muss die Sprache so und so sein. Es kommt aber vor, dass ich beim Schreiben davon abweiche. Wenn ich feststelle, dass sich nicht umsetzen lässt, was ich im Kopf habe, dann ändere ich es, aber vorher treffe ich auf jeden Fall eine Entscheidung.
Soweit das Interview von Edebiyat Atölyesi. Wie Ahmet Ümit recherchiert, lässt sich manchmal anhand der Fotos nachvollziehen, die er auf Twitter postet. So war er für die Recherche für den jüngsten Krimi Kayıp Tanrılar Ülkesi natürlich in Berlin und auch in Bergama vor Ort, für den Jungtürken-Roman Elveda Güzel Vatanım etwa in Thessaloniki, wo die Bewegung Ende des 19. Jahrhunderts entstand. Und in den – in der Originalausgabe stets vorangestellten – Danksagungen lesen wir, mit welchen Fachleuten er für das jeweilige Buch gesprochen hat: Mediziner:innen, Psycholog:innen, Archäolog:innen, Historiker:innen, Archivar:innen, Museumsmitarbeiter:innen usw. Ohne den Beitrag all dieser Leute, bemerkt er abschließend, „wäre dieser Roman nicht entstanden.“
Weitere Infos:
*Die Ümits leben während der Pandemie vornehmlich auf der Prinzeninsel Büyükada im Marmarameer vor Istanbul.
Wer die Götter herausfordert … – mein Blogbeitrag zu Kayıp Tanrılar Ülkesi [Land der verlorenen Götter; noch nicht übersetzt]
Bisher ins Deutsche übersetzte Bücher von Ahmet Ümit:
Nacht und Nebel (Sis ve Gece). Aus dem Türkischen von Wolfgang Scharlipp.
Der Teufel steckt im Detail – Kriminalgeschichten aus Istanbul (Şeytan Ayrıntıda Gizlidir). Aus dem Türkischen von Wolfgang Scharlipp.
Patasana – Mord am Euphrat (Patasana). Aus dem Türkischen von Recai Hallaç. LINK
Die Gärten von Istanbul (İstanbul Hatırası). Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe.
Das Derwischtor (Originaltitel: Bâb-ı Esrar). Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe.
Foto: Edebiyat Atölyesi
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