War es ein Unfall, Kodokushi* oder gar Selbstmord? Warum lief Osman einfach weiter, als der Lkw auf ihn zuhielt? In ihrem lang erwarteten neuen Roman Osman (2020) verfolgt die renommierte türkische Autorin Ayfer Tunç aus der Perspektive von Augenzeugen und Freunden den Lebensweg eines Mannes aus der Istanbuler High Society, der sich treiben lässt, scheitert, alles verliert und nicht versteht, warum. In Interviews und Tagebuchauszügen entwirft sie ein Gesellschaftspanorama mit Fokus auf die areligiöse urbane türkische Oberschicht von den Neunzigern bis zum Jahr 2020. Wer Tunçs frühere Romane gelesen hat, erkennt spätestens, wenn immer wieder „das Ereignis“ auftaucht, wer Osman ist bzw. war …
Zuletzt war Osman mittelloser Pianist in einer traurigen Bar-Combo. Über seine letzte Zeit und den Unfall berichten Augenzeugen wie der Nachtportier, die heimliche Prostituierte, der Parkplatzwächter; interessant ist vor allem, was sie wie nebenbei über ihr eigenes Leben erzählen. Die – im Hintergrund bleibende Interviewerin – dehnt die „Ermittlungen“ bald auf Osmans Umgebung aus, Jugendfreunde und beispielsweise der Antiquar, der schon die Hinterlassenschaften von Osmans Vater übernahm, erzählen und ergänzen das Bild: als ein vom Erbe lebender Sohn aus reichem Haus, der Vater ein gewalttätiger Tyrann, der Großvater ein unehrenhafter Parvenu, der Bruder ein Mafia-Mitläufer, entschied Osman sich gegen den Willen der Familie für die Musik. Das Buch zeichnet die Emanzipationsgeschichte des Sohns vom dominanten Vater nach und ist damit auch ein Coming of Age-Roman einer kleinen urbanen Elite. Spannend wie sich zwischen Musik und Frauen, Alkoholexzessen, Partydrogen, Auto- und Motorradleidenschaft die Rückschau der Freunde und die Innenschau aus Osmans Tagebuch voneinander unterscheiden.
Als „leichtes Leben, das ich führte, als würde ich über Eis rutschen“, charakterisierte Osman sein Dasein im Tagebuch die frühen Jahre. Später dann, als er auch Jahre nach „dem Ereignis“ nicht wieder Tritt fasst, kommt er zu dem Schluss, sein ganzes Leben sei „von Angst geprägt“, er stecke in einem Teufelskreis: „Angst macht schwach und Schwäche vermehrt die Ängste.“ Melancholisch fragt er sich, was von ihm bleiben wird. Ja, er habe Fehler gemacht, aber vor allem habe er nie Glück gehabt. Was für die erste Hälfte seines Lebens sicher nicht stimmt: Es lief gut für ihn mit Geld und Musik, mit Freunden und Freundinnen, dann mit seiner bildhübschen Frau Şebnem, bis das Erbe des Vaters aufgezehrt war.
In Die Nacht der grünen Fee (Yeşil Peri Gecesi), das bereits eine Art Fortsetzung von Das Titelmädchen (Kapak Kızı, 1992) war, erzählte Ayfer Tunç 2010 die Geschichte von Şebnem, der die emotionslose Fixierung auf ihre Schönheit und die skrupellose Oberflächlichkeit der in instrumentellem Nutzendenken gefangenen Schickeria zum Verhängnis wird. Mit ihrem Mann Osman, dem „Schönling, Versager und Schwächling, der von der Illusion lebt, irgendwann mit seiner Musik, die keiner hören will, doch noch groß herauszukommen“ (meine Besprechung von 2011), lässt sie sich, als kein Geld mehr da ist, vom Schwager für eine Intrige gegen den Istanbuler Polizeichef benutzen. Der Spitzenbeamte stürzt über den Skandal mit dem Sex-Video, Şebnem aber erlangt nicht die erhoffte Rache an der skrupellosen Wirtschaftselite, sondern verschwindet enttäuscht und namenlos in der Bedeutungslosigkeit.
Osman, das späte Gegenstück, ist ein Hintergrundbericht und schreibt die beiden Şebnem-Bücher aus männlicher Perspektive fort. Im Interview erläuterte die Autorin 2020, dieses Buch schließe die Trilogie ab, und wirft ein Schlaglicht auf ihre Motivation für die Reihe:
Unsere Jugend fand in einer Zeit konfliktreicher kultureller Veränderungen statt, manche von uns passten sich den neuen kulturellen Codes an, manche haben diesen Prozess nie überwunden oder lehnten es ab, sich anzupassen. Nur einer kleinen Minderheit gelang es, auf den Beinen zu bleiben, ohne die eigenen Wahrheiten aufzugeben. Bei diesem Verlust spielte die neue sozio-politische Ordnung, die Ökonomie des „Konsum ist alles“ und die enorme Erosion unseres kulturellen Lebens eine Rolle. In meiner Generation gibt es viele hervorragend ausgebildete Leute, deren Leben dennoch zu einer Geschichte des Verlierens wurde. Es wäre nicht fair, die Verantwortung dafür allein persönlichen Fehlern zuzuschreiben.
So hatte ich Şebnems Geschichte auch als „ätzende Gesellschaftskritik“ verstanden und war insbesondere von der Nacht der grünen Fee begeistert. Ehemann Osman dagegen war so sehr Teil des geschilderten Oberschicht-Establishments, dass ich mich nie gefragt hatte, was aus ihm geworden ist oder wo die sozialen/soziologischen Gründe für sein Scheitern lagen. Möglicherweise aus diesem Grund fand ich die Lektüre jetzt eher müßig. Schade auch, dass Ayfer Tunç, die mich mit ihren feministisch motivierten Büchern überzeugt hatte, sich in ihren beiden jüngeren Romanen Weltschmerz und Osman rein auf die Männerperspektive kapriziert.
Die Jury des 2021 erstmalig ausgeschriebenen Vedat-Türkali-Literaturpreises zeichnete Osman allerdings mit dem Hauptpreis in der Sparte Roman aus. Vielleicht weil der Schlusssatz das derzeitige Lebensgefühl vieler in der Türkei recht gut resümiert: „Es ist nicht schön zu leben. Beziehungsweise es war schön, früher einmal.“
Ayfer Tunç: Osman. Roman. Can Yayınları, Istanbul 2020.
* Kodokushi ist die japanische Bezeichnung für einen einsamen Tod, ein in Japan zunehmend häufiges Phänomen. Osman bedauert in einem seiner letzten Tagebucheinträge, dass es auf Türkisch kein Wort dafür gibt, und sieht sich selbst einem solchen Schicksal entgegengehen.
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