Heute erscheint Ahmet Ümits großes Berlin-Bergama-Krimi-Epos in der Türkei
Ein Toter, der sein noch blutendes Herz dem Göttervater Zeus darreicht, vor dem donnernden Video-Clip Altar of Zeus in Endlosschleife. Hat der Mann sein Herz dem Gott geopfert, fragen sich da unwillkürlich die Berliner Hauptkommissarin Yıldız Karasu und ihr Assistent Tobias … Der türkische Meisterkriminalist Ahmet Ümit führt seine Kommissar:innen im neuen Krimi Kayıp Tanrılar Ülkesi (Land der verlorenen Götter) in gewohnter Manier mitten ins blutige Geschehen hinein, diesmal im quirligen Multi-Kulti-Berlin von heute. Yıldız, Kommissarin mit Migrationshintergrund, Identifikationsfigur und Sympathieträgerin, ermittelt in dieser grandiosen Berlin-Pergamon-Saga zwischen griechischen Göttern, jungen Türken, die sich mit deutschen Rassisten schlagen, Polizisten, die gegen Neonazis kämpfen, Menschen unterschiedlichster Lebensentwürfe und dem Versuch einer Art Chronik rassistischer Anschläge in Deutschland …
Mit dem künstlerisch ambitionierten und historisch interessierten Informatiker Cemal Ölmez* nimmt die Mord-Serie zwischen Berlin und Pergamon (türkisch Bergama) ihren Ausgang. War es ein rassistisch motivierter Mord, wie Nachbarn und Polizei sogleich vermuten? Café 88, die Kneipe der Neonazis liegt quasi um die Ecke. Oder war es ein Ehrenmord durch Bruder oder Vater, weil Cemal schwul war? Oder ein Eifersuchtsakt seines älteren Lovers Alex, der schon mal lautstark drohte, er bringe ihn um, wenn er ihn verlasse? Mutmaßte der Schlagzeuger nicht erst kürzlich, Cemal sei ihm untreu, und zwar mit seinem smarten Chef Peter? Und wieso taucht dieser Peter unvermutet bei Cemals Familie auf und bietet Unterstützung an? Und was hat das bizarre Zeus-Video mit alledem zu tun?
Göttervater Zeus kommt ein ums andere Kapitel persönlich zu Wort, er beklagt, dass die Götter bei den Menschen allzusehr ins Hintertreffen geraten seien. Sein geplantes Comeback klingt wie Versprechen und Drohung zugleich:
Ich werde meinen goldenen Thron auf dem Olymp wieder einnehmen, damit ich all die Sünden sehen kann, die ihr begeht. Ich werde meine Herrschaft aufs Neue errichten, damit eure Ausbeutung und Ausplünderung von Himmel und Erde ein Ende haben. Ich werde die Erde wieder segnen, die Meere heiligen, die Luft reinigen …
Der berüchtigte Obergott ein Öko? Nun, um umzusetzen, was er hier vollmundig ankündigt, braucht er Unterstützung, die er sich bei einer Reihe mächtiger Götter und Göttinnen zu sichern versucht. Im „Diesseits“ verweist unterdessen eine mit Freundin und Nachbarin darauf, Cemals Familie hätte etwas mit dem Zeus-Altar in Pergamon/Bergama zu tun gehabt, ja, sein Großvater habe das Megabauwerk entdeckt. Wer als Jugendliche:r nicht die Griechischen Sagen gelesen hat, erhält hier vom Göttervater persönlich eine Lehrstunde in griechischer Mythologie nach der anderen. Zeus schildert den Kampf der griechischen Götter gegen die Titanen, deren Szenen auf dem Fries des Pergamonaltars dargestellt sind als die erste Großvater-Vater-Sohn-Schlacht überhaupt.
Wie Autor Ahmet Ümit selbst zum Götterglauben steht, verrät er, wie ich ihm unterstelle, in den Worten des Archäologen Haluk, einem Cousin Cemals, der die Kommissare in Sachen Mythologie ins Bild setzt:
Erwarten Sie etwa, dass ich einen solchen Blödsinn glaube? (…) Wovon wir reden, ist Mythologie, Sage, ein veraltetes Glaubenssystem, zugleich aber auch die Geistesgeschichte der Menschheit. An die Sagen, die wir heute für Unsinn halten, haben Menschen etliche tausend Jahre geglaubt. Erst schufen sie diese Götter, dann bauten sie ihnen Tempel, beteten zu ihnen, erließen Gesetze, töteten und starben. Selbstverständlich glaube ich nicht daran, dass meine Sippe von Zeus abstammt, denn es hat ihn nie gegeben. Zeus und seine Verwandten auf dem Olymp sind Produkte des Geistes der Menschen, die damals gelebt haben. Es ist der vor dreitausend Jahren in Religion gegossene Ausdruck der Ängste, Erwartungen und Hoffnungen unserer Spezies, die niemals imstande sein wird, die Realität ganz zu erfassen. Es ist doch heutzutage das Gleiche, nur mit anderen Religionen, anderen Göttern, anderen Ritualen. Da der Mensch, nach wie vor ohne Begreifen der Realität, sich das außerordentliche Wunder des Lebens nicht erklären kann, sucht er jemanden, der ihn beschützt, ein mächtiges Wesen, das sein Los bestimmt, einen heiligen Drehbuchschreiber, der ihm Glücklichsein zuschreibt. Und so wird es weitergehen, fürchte ich, bis er endlich begreift, dass das kostbarste Phänomen auf Erden die Realität ist.
In der letzten großen Götterschlacht gewinnt Zeus mit seinen Kampfgenossen gegen Gaia und ihre Unterstützer, schlicht weil ihre Zeit abgelaufen ist. Das gesteht die Erdenmutter auch ein, mahnt aber zugleich, ihm werde es ebenso ergehen, wenn seine Zeit abläuft.
Das Buch ist auch ein Plädoyer „gegen das Vergessen“, sein Credo dazu legt der Autor Kommissarin Yıldız in den Mund, als ihr Assistent ihr seinen Nazi-Großvater beichtet und sagt, seine Familie habe die Vergangenheit vergessen wollen. „Vergessen ist das gefährlichste überhaupt“, sagt Yıldız, deshalb liebe sie Berlin vor allem wegen des Holocaust-Mahnmals, weil das bedeute, die Menschen stellen sich bewusst der Vergangenheit, damit so etwas nie wieder geschehe. Dies darf zweifellos als Wink an die türkische Neigung zum Verdrängen historischer Schandtaten gelesen werden.
Spannend ist die Geschichte der Eltern der alleinerziehenden Kommissarin Yıldız. Als Mitglieder der türkischen KP blieben sie auf Geheiß der Partei unmittelbar nach dem Militärputsch 1980 im Ausland und stellten Asylanträge in West-Berlin. Heute kümmert sich Yıldız’ Vater Yaman gern um Enkel Deniz und versorgt die Kommissarin wie nebenbei mit zahlreichen politischen Geschichten, recherchiert auch für sie. Gerade jetzt, wo hierzulande der Fokus bei Geflüchteten aus der Türkei fast ausschließlich auf der Anti-Erdoğan-Diaspora liegt, sollten die vor 40 Jahren Gekommenen und vielfach Gebliebenen mit ihren Geschichten und ihrem Beitrag zur hiesigen Kultur nicht in Vergessen geraten.
Als Yıldız gegen Ende der Ermittlungen Hals über Kopf in die Türkei fliegen muss, entsteht in ihrem Kopf ein schönes Bild für die türkische Diaspora:
Die vor vielen Jahren nach Deutschland migrierten Menschen aus Anatolien glichen dem abgesägten Ast eines mächtigen Baumes. Den Baum tangierte die Verletzung nicht weiter, der vom Stamm getrennte Ast aber begann in einem anderen Klima auszutreiben. Das Wasser, das er trank, die Erde, in der er Wurzeln schlug, die Luft, in die er hineinwuchs, machten ihn zu einem ganz anderen Baum. Die Menschen waren nun weder Deutsche noch Türken. Yıldız war sich nicht sicher, ob das negativ war. Es konnte durchaus von Vorteil sein, in beiden Kulturen zu Hause zu sein. Am schlimmsten war es, dazwischen zu sein.
Es dauert eine Weile, bis sich der Zusammenhang zwischen der Göttererzählung und der Mord-Serie erschließt. Familienkrach wie bei den Göttern gab es in Cemals Familie auch. Die Verknüpfung geht aber über diese Ähnlichkeit hinaus, als die Kommissare Bilder entdecken, in denen Cemal die männlichen Mitglieder seiner Familie als eben diese Götter dargestellt hat. Was es damit auf sich hat und wer der „Zeus“ ist oder sein möchte, wird nach einer Reihe weiterer Morde deutlich.
Ahmet Ümit kennt sein Berlin und hat sich detailliert über die deutsche Geschichte, vor allem die dunklen Seiten und die ausländerfeindlichen und rassistischen Anschläge der letzten Jahre und Jahrzehnte, kundig gemacht. Stimmig gelingt ihm auch der überraschende Kunstgriff, das Buch genau zu dem Termin erscheinen zu lassen, an dem es spielt: Juni 2021. In der Türkei ist der Bestseller vorprogrammiert, aber wie wird dieser „türkische Berlin-Krimi“ in Deutschland aufgenommen werden? Ich bin gespannt!
Ahmet Ümit: Kayıp Tanrılar Ülkesi. (Das Land der verlorenen Götter), Yapı Kredi Yayınları, Istanbul 2021.
Trailer/Teaser zum Buch auf dem Videokanal des Autors auf YouTube
*Cemal Ölmez: Sinnigerweise heißt der erste Tote „Ölmez“ = „stirbt nicht“ mit Nachnamen, allerdings lässt sich das Wort auch als „unsterblich“ interpretieren …
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