Ein brandaktuelles Corona-Buch aus der Türkei, mit einer Einbettung in „das Epidemie-Abenteuer der Menschheit“ (so der Untertitel) von einem Journalisten&Kolumnisten, dachte ich, interessant, das muss ich lesen und besprechen, solange die Pandemie noch omnipräsent ist. Er habe „zusammengebracht, was so noch nicht zusammengedacht“ worden sei, postuliert denn auch Umur Talu im Vorwort zu Senin Adın Corona Olsun… (Corona soll dein Name sein). Er wolle zeigen, dass alles mit allem zusammenhänge, horizontal (weltweit) wie auch vertikal durch die Geschichte. Spannend! Ab dem ersten Kapitel überrascht mich das Buch, das alles andere als ein Corona-Buch ist, vielmehr eine Art Wunderkammer der Assoziationen eines, sagen wir, sprunghaften, hervorragend informierten und meisterhaft recherchierenden Geistes …
Los geht es mit Cholera in Istanbul während der Balkankriege, die Bürgermeister Cemil Topuz, ein in Frankreich ausgebildeter Mediziner, dank sofortiger strenger Quarantäne der Betroffenen in den Griff bekommt. Am Ende des Kapitels stirbt als erstes Covid-19-Opfer des medizinischen Personals in der Türkei der Arzt Prof. Dr. Cemil Taşçıoğlu. Im zweiten Kapitel geht es mit George Floyd weiter, der wohl auch deshalb keine Luft mehr bekam, weil er mit Corona infiziert war. Auf der 20-Dollar-Note, die er bei seiner Verhaftung in der Tasche hatte, prangt das Konterfei des 7. US-Präsidenten Jackson, einem Rassisten und Sklaverei-Befürworter, bekannt für seine Kampagnen zur Vernichtung und Vertreibung der indigenen Bevölkerung. Trump verhinderte, dass sein Bild durch das der ehemaligen Sklavin und Bürgerrechtlerin Harriet Tubman ersetzt wurde, hängte sich vielmehr ein Jackson-Porträt ins Oval Office … Es folgen Kapitel über die Geschichte des Rassismus in den USA – stets mit näher oder meist ferner liegendem Bezug zu Corona und immer auch irgendwie zur Türkei.
Während Jeff Bezos, der reichste Mann der Welt, den Profit seines Unternehmens Amazon in der Corona-Ära vervielfachte, schmoren die Indigenen am Amazonas im Elend. Wie alle Diskriminierten, ob Arbeiter, Arbeitslose, Obdachlose, gedrängt auf engem Wohnraum Lebenden, Schwarzen, Latinos, Indigene usw. …
Wie will er bei einem solchen Kapiteleinstieg die Kurve zur Türkei kriegen? Nichts leichter als das (er kriegt sie immer!): Auf Umwegen kommt er zu dem Botaniker und Polyhistor Constantine Rafinesque, 1783 in Galata (Istanbul!) geboren, allein deshalb in der Encyclopædia Britannica als „türkischer Naturwissenschaftler“ verzeichnet, der in seinen Reisememoiren das osmanische Istanbul beschrieb und wahrhaftig glaubte, die Türken seien „eine Art Ursprung“ der amerikanischen Indianer! Apropos (so geht es im Kapitel weiter), die Ärztin Eileen Barret, die bereits 2015 zur Bekämpfung der Ebola-Epidemie in Afrika war, reiste 2020 nach New Mexico, um sich der Navajo anzunehmen, die in der ersten Welle besonders heftig von Corona betroffen waren. Wütend schimpfte sie über „strukturelle Ungleichheit und strukturellen Rassismus“ und mahnte: „Wir dürfen Menschen nicht bloß als Fallzahlen sehen! Es sind doch Menschen!“
Quellenangaben schenkt sich der Autor, dafür steckt er viel zu sehr im fieberhaften Brainwriting, springt von einem Gedanken zum nächsten, ganz in der Logik unserer multilateralen VUCA-Welt. Talu pflückt eine Frucht vom Corona-Baum oder aus der Geschichte einer anderen Pandemie, vor allem der Spanischen Grippe, und hüpft von Ast zu Ast, bald mit, bald ohne roten Faden, am Ende steht er dann in einem völlig anderen Wald. Unglaublich viele Details stellt er in einen Kontext, der meist nur schwer nachvollziehbar ist. So funktioniert wohl ein social-media-kompatibler, flexibler Kopf, wenn er das knappe Gut Aufmerksamkeit generieren will: kurze Texte, kleinteilig, kurzweilig, überraschend, informativ, assoziativ, stets souverän auftretend, gnadenlos auf die Leser:innen einstürmend … Beispielsweise so:
Von Safiye Hüseyin, Tochter eines osmanischen Paschas und einer englischen Adeligen, der ersten türkischen Krankenschwester, kommt er über Florence Nightingale zu „Captain Tom“, der 99-jährig Millionen Spenden für das britische Gesundheitswesen sammelte. Seine Version von You’ll Never Walk Alone stammt ursprünglich aus dem Musical Carousel von Rodgers und Oscar Hammerstein, dessen deutscher Großvater 1919 an Nierenversagen bei der Spanischen Grippe starb. 2020 wurde der FC Liverpool, dessen Hymne dieser Song ist, Champion der britischen Liga. Bei den Liverpooler Rathebones lernte indes die amerikanische Krankenschwester Dorothea Dix, die im 19. Jahrhundert vor allem gegen Tuberkulose kämpfte, einen französischen Arzt kennen und widmete sich fortan dem Aufbau psychiatrischer Kliniken, weshalb sie 1855 zum Papst nach Rom reiste und anschließend nach Istanbul, um ihr Vorbild Florence Nightingale zu treffen, die wegen des Krimkriegs im Lazarett der dortigen Selimiye-Kaserne tätig war … Ah, mir schwirrt der Kopf von all den Namen, Zeiten, Sprüngen! Jedenfalls besuchte Dix Kliniken in Istanbul, lernte dort den italienischen Chefarzt Luigi Mongeri kennen, der psychisch Kranke aus der Ankettung geholt hatte. Nach seinem Tod übernahm sein Stellvertreter, ein jüdisch-venezianisch stämmiger Istanbuler die Leitung des inzwischen umgezogenen Militärlazaretts, der seinerseits 1918 in Nizza starb, als soeben die spanische Grippe über den Atlantikhafen Brest Einzug nach Frankreich hielt … (Das ist nur ein winziger Anriss eines fünfseitigen Kapitels!)
Während ich mich noch frage, was das eine mit dem anderen zu tun hat, reißt mich schon eine neue Geschichte mit, meist auch nur wenige Sätze bis Absätze lang. Ach, der Maler Gustav Klimt starb auch an der spanischen Grippe, ebenso Trumps deutscher Großvater? Und wie war das mit der – falschen – „Seuchen-Krankenschwester“ Julia Lyons, die während der Spanischen Grippe in Chicago Hunderte Familien ausraubte, endlich überführt der Polizei immer wieder entging, deshalb auch „glitschige Julia“ genannt wurde? Zehn Jahre Haft bekam sie schließlich, auch wegen Bigamie. Ein 5-Dollar-Medikament verkaufte sie für 63 Dollar – wie heute 85-Cent-Masken für 5 Dollar verkauft werden, der Täter heute aber heiße: „der Markt“ …
Ich gebe auf, so interessant die einzelnen Informationen sind, den Faden habe ich längst verloren, erschlagen vom unablässigen Fakten-Hagel. Talu kommt innerhalb weniger Sätze vom Hundertsten ins Tausendste, selten war die Redewendung so treffend wie für dieses Konvolut schier unglaublicher Fundstücke. Und es gelingt ihm tatsächlich, sie alle miteinander zu verknüpfen. Sein Buch ist ein flirrender Essay aus einer ungeheuren Vielzahl von Puzzleteilen, mit Corona hat er wenig zu tun, die Pandemie bietet dem Autor lediglich Anlass zu eigenwilligen Gedankensprüngen. Er lässt gewissermaßen einen Gedanken von Corona infizieren, um anschließend querbeet zu assoziieren. Mir wurde es irgendwann – buchstäblich – zu bunt. Doch wer Lust auf Zerstreuung, Anregungen im Sekundentakt und unermüdliches Mitdenken hat, der wird seine Freude an Umur Talus sprühendem Feuerwerk haben.
Ach ja, den Namen Corona gab übrigens die Virologin June Dalziel Hart Almeida 1966 in London dem noch zu erforschenden Grippevirus unter ihrem Mikroskop, wegen seiner Form. „Ein weiterer vergessener Name“, sagt Umur Talu und widmet ihrer Geschichte die letzten Absätze des Buches. Natürlich muss man dieses Buch auch nach Corona weiterlesen, am besten häppchenweise und nach Lust und Laune hineingesprungen.
Umur Talu: Senin Adın Corona Olsun… [Corona soll dein Name sein] Literatür, Istanbul 2020.
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