Die Aufarbeitung der Geschichte schlägt sich früher oder später immer auch in der Literatur nieder. So wurde in der Türkei etwa über den Genozid an den Armenier*innen oder die Massaker an Kurd*innen bereits mehrfach geschrieben. Kaum beachtet dagegen blieb bisher die Vertreibung genozidalen Ausmaßes der Pontos-Griechen vom Schwarzen Meer. Tamer Çilingir legte 2016 dazu seine grundlegende Studie Pontos Gerçeği: 1914-21 Yılları Arasında Karadeniz’de Yaşananlar (Die Pontos-Wahrheit: Was 1914-21 am Schwarzen Meer geschah) vor. In den USA war bereits im Jahr 2000 Thea Halos viel beachtetes Werk Not even my name über das Schicksal ihrer als 10-Jährige deportierten pontosgriechischen Mutter erschienen. Jüngst machte sich der Journalist Mirko Heinemann auf Spurensuche in der alten Heimat seiner Großmutter an der türkischen Schwarzmeerküste. Seine spannende, breit angelegte und historisch unterfütterte Reportage Die letzten Byzantiner erschien 2019. Den – meines Wissens – ersten Roman zum Thema legte Defne Suman 2018 vor: Kahvaltı Sofrası (Am Frühstückstisch) …
1974 – im Jahr der türkischen Zypern-Invasion – in Istanbul geboren, lehrte Defne Suman Soziologie und Sozialanthropologie, bevor sie ihre akademische Laufbahn abbrach und auf Reisen ging. In Indien und Thailand lernte sie Yoga, das seither ihr Leben bestimmt. Heute ist sie neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit Shadow-Yoga-Lehrerin, lebt und schreibt in Istanbul, Athen und Portland Oregon. Der Impuls für ihren vierten Roman Kahvaltı Sofrası kam, wie sie im Interview sagt, bei der Lektüre der Erzählung Yük (Die Bürde) von Ayfer Tunç: Wie geht es den Kindern, Enkeln, Urenkelinnen einer Frau, die ihr Leben lang die schwere Bürde eines Familien-/Herkunftsgeheimnisses im Herzen trug? Als Kind selbst überwiegend „zwischen Menschen dreier Religionen und Sprachen“ in der großbürgerlichen Villa des Urgroßvaters auf der Insel Büyükada aufgewachsen, siedelte Suman ihren Roman „Am Frühstückstisch“ eben dort an.
Zum 100. Geburtstag der Malerin Şirin Saka stellen sich Enkelin Nur, Enkel Fikret mit Tochter Selin und der Journalist Burak in der Familienvilla auf Büyükada ein, wo die betagte Dame mit ihrem kaum jüngeren Butler Sadık lebt. Fikret will endlich das vermutete Familiengeheimnis lüften und drängt den für seine sensiblen Portraits gealterter Persönlichkeiten berühmten Journalisten, die Jubilarin nach ihren Eltern zu fragen. Bevor dieser dazu kommt, verschwindet Fikret und macht sich auf eigene Faust auf die Suche. Unterdessen flirtet seine norwegisch-türkische Tochter Selin so heftig wie hoffnungslos den Journalisten an, während dieser hofft, seine frühere Affäre mit Nur wieder aufleben zu lassen. Die scheue, treue Liebe des Butlers Sadık zur Malerin Şirin stellt sich erst nach und nach heraus. Unerfüllte Leidenschaften alle drei. „Wir wählen bewusst unerreichbare Menschen“, merkt die Autorin im Interview dazu an, „um das Gefühl von Liebe, Euphorie und Leidenschaft stets wach zu halten.“ So ist dieser Roman in erster Linie die Erzählung dreier großer Liebesgeschichten. Dazu kommt die Liebe der Autorin zum Ort der Handlung: Der Roman lebt zu einem guten Teil von lebendigem Lokalkolorit des Mikrokosmos auf Büyükada (Prinkipos), der früher vor allem von Griechen bewohnten größten der Istanbuler Prinzeninseln im Marmarameer.
Und wo sind nun die Pontos-Griech*innen? Lange nur in seltenen, nebulösen Erinnerungsbildern des alten Butlers versteckt, der nicht an der Vergangenheit rühren will: Berge, Dörfer, Kämpfe, ein Besuch in einem Felsenkloster mit Şirin in beider Kindheit, wo ein Priester eine Ikone ausgräbt, sie küsst und weint, die Kinder flüchten, als Soldaten kommen, müssen dennoch Grausiges mit ansehen. Dann lässt die Malerin beim Betrachten alter Fotos mit Urenkelin Selin eine Bemerkung über ihren Vater fallen. Parallel dazu taucht auch Fikret wieder auf und erzählt Journalist Burak, was er auf seinem Kurztrip nach Trabzon, der Heimat der Großmutter, in Erfahrung bringen konnte: Şirin und Sadık sind pontosgriechischer Herkunft, Şirins Vater verriet zum Schutz der eigenen Familie einen Freund an türkische Soldaten, nach dem Tod der Väter wurden die Kinder nach Istanbul verschickt … In der Villa ist die 100-Jährige unterdessen in einem späten Kreativitätsschub dabei, in einem gigantischen Gemälde die Erinnerung an Kämpfe und Vertreibung an die Wand zu werfen, denn:
Eine Bresche zur Vergangenheit hat sich aufgetan. Und wenn das so ist, gibt es auch eine Geschichte, die von dort herüberdrängt. Geschichten sind unvergesslich. Sie liegen in uns und schweigen. Eines Tages aber reißt ihr Druck Breschen, durch sie strömt dann die Vergangenheit in die Gegenwart herein.“
Monate später hat Burak mit seiner Zeitungsreportage über die Malerin Şirin für großen Wirbel gesorgt, Hunderte Mails erreichen ihn, in denen Betroffene mit jahrzehntelang verleugneter oder verdrängter Identität ihre Geschichten als Pontos-Griechen erzählen. Er beschließt, zu Recherchen über das Thema, das offensichtlich viele betrifft, nach Trabzon zu reisen und ein Buch darüber zu schreiben.
Beeindruckt hat mich darüber hinaus eine der vielen Nebenepisoden: Nur stieg früh aus dem Journalismus aus, als sie nach einer Reportageserie über den Hungerstreik Gefangener, die mit der extrem brutalen Polizeioperation „Rückkehr ins Leben“ (Ende 2000) beendet wurde, erkannte, wie verlogen und manipulativ Journalismus in ihrem Land ist. „Wir waren uns bewusst, dass unser Beruf die Macht hat, die Realität zu verdrehen und die Geschichte neu zu schreiben“, weiß auch Burak blieb allerdings seinem Beruf treu.
Kahvaltı Sofrası ist ein Gesellschaftsroman aus der türkischen Mittelschicht von heute, mit starkem Bewusstsein für soziale und politische Brüche wie auch für die Vielfalt der Kulturen und Identitäten, die unter dem Assimilierungspostulat „türkisch“ brodelt. Eine literarische Be- oder Verarbeitung des Schicksals der Pontos-Griechen ist es weniger, dafür bleibt dieses Narrativ zu stark im Hintergrund. Vielmehr ist es ein Buch über die Nachfahren. Denn ist nicht gerade das die Realität der meisten heute noch in der Türkei lebenden Nachkommen einst verfolgter Minderheiten: Nur sporadisch blitzt die Vergangenheit der Vorfahren in Andeutungen oder – für die Jüngeren oft unverständlichen – Erzählungen auf, meist aber bleibt sie verhüllt in auffälligem Schweigen. Nicht-Wissen, Desinteresse, Schweigen, Tabuisierung … „In diesem Land gibt es Dinge, über die wir seit hundert Jahren nicht reden“, klagte die Autorin im Interview.
Buraks Journalistenrezept, „die Alten ohne viel Unterbrechungen reden zu lassen“, damit „die Erinnerungen frei fließen“, liest sich wie ein Rat an Leser*innen, die wissen wollen, was sich hinter dem Schweigen älterer Angehöriger verbirgt – und das implizite Plädoyer der Autorin, zu reden statt zu schweigen und zu verdrängen, betrifft ausdrücklich auch die nachfolgenden Generationen, egal um welches Thema es geht.
Kahvaltı Sofrası schließt nach Emanet Zaman (2016, „Anvertraute Zeit“) und Yaz Sıcağı (2017, „Sommerhitze“), allesamt zu verschiedenen Aspekten griechischer Vergangenheit in der Türkei, laut Aussage der Autorin eine Trilogie über die „Auswirkungen verborgen gebliebener Geschichte auf die Dynamik heutiger Familien“ ab – ins Deutsche übersetzt ist bisher leider nichts davon.
Defne Suman: Kahvaltı Sofrası. (Am Frühstückstisch) Roman. Doğan Kitap, Istanbul 2018. / Website der Autorin (Türkisch, Englisch, Griechisch) / Katalogseite bei Kalem Agency
Weitere Literatur:
• Çilingir, Tamer: Pontos Gerçeği: 1914-21 Yılları Arasında Karadeniz’de Yaşananlar (Die Pontos-Wahrheit: Was 1914-21 am Schwarzen Meer geschah). Belge Yay., Istanbul 2016. / Gespräch mit dem Autor (Türkisch)
• Halo, Thea: Not even my name. Picador, New York 2000. Erweiterte Ausgabe 2001. / Website zum Thema
• Heinemann, Mirko: Die letzten Byzantiner. Die Vertreibung der Griechen vom Schwarzen Meer. Eine Spurensuche. Ch. Links Verlag, Berlin 2019. / Blog des Autors
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