„Wie in jeder Monsunzeit sind Millionen Menschen in Südasien von heftigem Regen und Erdrutschen betroffen. Hilfsorganisationen kritisieren, große Bauvorhaben hätten die Situation verschlimmert.“ (Tagesschau vom 21. Juli 2020) Eine beinahe jährlich wiederkehrende Nachrichtenmeldung, kaum gehört, schon vergessen. Betroffen blättere ich ein paar Seiten in meiner aktuellen Lektüre zurück, Kamala Markandayas Nektar in einem Sieb:
Der Regen fiel so stark, so lange und so ununterbrochen, dass der Gedanke an eine regenlose Zeit nur sanftes Staunen hervorrief. (…) Als die Nacht herankam – die achte Nacht des Monsuns -, wurde der Sturm immer stärker, heulte und klagte rings um unsere Hütte (…) Der Blitz schlug fast ohne Unterlass seine Krallen in den Himmel, und der Donner erschütterte die Erde …
Die Kinder jammern, „denn sie waren vom Sitzen auf dem feuchten Boden widerwillig und übellaunig geworden, und sie hatten Hunger, weil es schon jetzt wenig zu essen gab.“ Die Felder sind überschwemmt, die Ernte ist dahin. Dieser Monsun ist ein Wendepunkt in Rukmanis bescheidenem aber bislang glücklichen Leben. Immerhin steht die Hütte noch, im Gegensatz zu vielen anderen im Dorf, wenn auch stark ramponiert. Palmblätter zum Flicken des Dachs sind so wenig zu bekommen wie Reis zum Essen, nicht einmal zu Wucherpreisen …
Nektar in einem Sieb, das Debüt der Journalistin und Schriftstellerin Kamala Markandaya (1924-2004), in Südindien geboren und 24-jährig nach England gegangen, ein Grundstein der indoenglischen Frauenliteratur und 1990 mit dem LiBeraturpreis ausgezeichnet, stammt bereits von 1954 (Deutsch 1986 im Unionsverlag). Doch es ist alles andere als verstaubt, liest sich frisch und fesselnd. Die Autorin fokussiert auf den Beginn der Industrialisierung ländlicher Regionen und zeichnet anhand der Geschichte ihrer aufgeweckten Ich-Erzählerin nach, was die damit einhergehenden Veränderungen für die Landbevölkerung bedeutet hat.
Rukmani ist eine Frau, die anpackt und nicht lange klagt. Verheiratet mit gerade einmal zwölf Jahren, ist sie, die Tochter eines Dorfvorstehers, schockiert, als ihr Mann sie in ihr neues Heim führt: eine armselige Ein-Raum-Hütte auf gepachtetem Boden, wo er Reis anbaut. Doch als sie erfährt, dass er die Behausung eigenhändig für sie errichtet hat, ist sie stolz auf ihn. Und bei aller Armut führt das Paar eine glückliche Ehe, auch als „nur“ ein Mädchen zur Welt kommt und lange kein weiteres Kind. Rukmani verbucht die ersten Jahre als gut, es ist genug für Essen und Pacht da und die Familie ist einander in Respekt und Liebe zugetan (worauf das Cover der italienischen Ausgabe wunderbar verweist). Rukmani mag arm sein, doch sie lebt ein reiches Leben. Nach Intervention eines Arztes kommen endlich auch Söhne, allerdings ist mit jedem neuen Kind weniger für alle da.
Dieser eigenwillige britische Arzt, Dr. Kennington, der nur sporadisch ins Dorf kommt, für die Bauern eine geachtete Vertrauensperson, bildet mit seinem Sarkasmus angesichts des allgegenwärtigen Fatalismus, seiner Rastlosigkeit, seiner unglücklichen Familiengeschichte trotz Wohlstands den Antipoden der Erzählung. Zu guter Letzt wird er ein Krankenhaus aufbauen und den letzten verbliebenen Sohn Rukmanis, der sich zum Leidwesen der Eltern so gar nicht zum Landmann eignet, als Assistenten aufnehmen.
Als Fremde ins Dorf kommen, eine Gerberei und eine Arbeitersiedlung errichten, bleibt Rukmani im Gegensatz zu allen anderen skeptisch. Natürlich hat sie nie von Gentrifizierung gehört, doch das ist es, was sie fürchtet. Ein paar Jahre später arbeiten auch die beiden älteren Söhne in der Gerberei, der Zuverdienst ist willkommen, doch Rukmanis Zweifel bleiben. Und richtig, bei einem Streik werden beide als Rädelsführer gefeuert. Der einzige Weg aus der Perspektivlosigkeit führt sie zum Arbeiten in die Fremde, der Kontakt zur Familie bricht ab.
In einem weiteren schlimmen Jahr muss die Familie sogar Lebensnotwendiges verkaufen, um wenigstens die Hälfte der Pacht zu zahlen. Es kommt noch schlimmer. Hilflos erlebt Rukmani, wie ihr Jüngster vor ihren Augen verhungert. Um ihn zu retten prostituiert sich die vom Ehemann als unfruchtbar zurückgeschickte Tochter heimlich, doch vergebens. Bald darauf ist sie, die angeblich Unfruchtbare, schwanger. Noch ein Mund zu stopfen, und welche Schande! Doch die Familie hält zusammen. Und als zu schlimmer Letzt noch der Super-GAU eintritt, der Landbesitzer ihr Stückchen Boden an die Gerberei verkauft, die Eheleute buchstäblich auf der Straße landen und der in der Stadt arbeitende mittlere Sohn nicht auffindbar ist, versuchen sie erneut, sich aus eigener Kraft zu retten, arbeiten eine Weile im Steinbruch und adoptieren sogar noch einen Bettlerjungen, dem Lepra schon die Hände zerfressen hat.
Kamala Markandaya gibt in der authentisch geschilderten, sympathischen Figur Rukmani Menschen eine Stimme, die selbst keine haben. Nicht, um sie vorzuführen oder Mitleid zu erregen, vielmehr zeigt sie, dass Würde im Herzen verankert ist, auch wenn das Leben einen nach „ganz unten“ führt.
Der Titel Nektar in einem Sieb ist ein Zitat aus S.T. Coleridges Gedicht „Work Without Hope“, aus dem auch das Epigraph stammt: Work without hope draws nectar in a sieve, / And hope without an object cannot live. (Arbeit ohne Hoffnung ist wie Nektar in einem Sieb / Und Hoffnung kann nicht ohne etwas leben, worauf sie sich richtet. – In der deutschen Fassung fehlt das Epigraph.) Hoffnung hat Rukmani längst nicht mehr, doch die Zuversicht hat sie nie verloren, so widrig die Umstände, so hart die Schicksalsschläge auch waren. Nun, da sie Rückschau hält, ist sie mit sich im Reinen.
Einen „elitären und idealisierenden Blick auf die armen und ungebildeten Schichten des Landes“, wie ein Vorwurf lautete, würde ich Kamala Markandaya gerade nicht unterstellen. Denn in Nektar in einem Sieb beschönigt, romantisiert, idealisiert sie nichts, unterlässt vielmehr jedes Pathos, jede Dramatisierung, Skandalisierung und Emotionalisierung. Ihre Hauptfigur Rukmani hätte es zweifellos nicht anders gewollt.
Kamala Markandaya: Nektar in einem Sieb. Aus dem indischen Englisch von Trude Geißler und Gertrud Grote. Unionsverlag, Zürich 2009. (erste Auflage 1986)
*Le Riz et la Mousson ist die französische Übersetzung betitelt.
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