Wer kein Gesicht hat, existiert nicht. (Oliver Bottini)
Mercan reinigt Treppenhäuser, sie ist eine der „stillen Held:innen des Alltags“, eine der prekär beschäftigten Dienstleister:innen, auf die wir alle angewiesen sind, ohne sie bewusst wahrzunehmen. Genau das ist es, was Mercan am meisten schmerzt: unsichtbar, austauschbar zu sein. Seray Şahiner holt sie in ihrem zweiten Roman Kul* (2017) aus dem toten Winkel unserer Wahrnehmung heraus. Die Autorin erzählt nicht von und über Mercan, vielmehr atmet sie ihr Lebensgefühl und lässt uns daran teilhaben. Mercan steht stellvertretend für so viele andere Frauen, die von Kindheit an darauf konditioniert sind, für andere zu sorgen, die das Gefühl brauchen, gebraucht zu werden. „Das uns Frauen vermittelte Rollenbild ist die Frau, die auf den Mann wartet“, merkt die Autorin im Interview an. Sei der Mann da, fange das Leben an; Mercans Leben aber beginnt, als ihr Mann gegangen ist …
„Geh doch, wenn du gehen willst“, hatte Mercan im Streit gesagt, dann war er weg, der arbeitslose, kiffende Mann, der ihr vor allem eine Last gewesen war. Hier setzt das Buch ein. Kurz ist Mercan ganz kurz, die Bürde los zu sein, dann aber fängt sie an, ihn zu vermissen, besser gesagt: sie vermisst jemanden, um den sie sich kümmern kann. Nun klappert sie Schreine, Moscheen, alevitische Cem-Häuser, Kirchen und Wahrsager ab, betet und legt Gelübde ab, damit er heim- und sie endlich ein Kind bekommt.
Hat Mercan ihren Mann geliebt? Nein. Aber jedes Zuhause braucht einen Atem. (…) Und sei es jemanden, mit dem man streiten kann.
„Ersatz“ findet Mercan im Fernsehapparat, er ist die schmerzlich vermisste „Stimme im Haus“, er lindert ihre Einsamkeit. Sie isst, schläft, lebt mit ihm, er ist ihr „Coach, ihr Stilberater, ihr Hausarzt“. Um ihn reparieren zu lassen, versetzt sie gar ihren Ehering. Tag und Nacht laufen vor allem Serien, in denen Frauen „etwas für sich tun“ – das fast immer im Zusammenhang mit Konsum steht. Mercan, die über ihre Zeit und ihr Einkommen jetzt selbst verfügen kann, beginnt, sich ein Vorbild an diesen Frauen zu nehmen. Sitzen diese sonntags beim Brunch, besorgt sie auf dem Rückweg von der sonntäglichen Frühschicht Cherrytomaten, frisches Brot und Zeitungen. Wie dumm nur, dass die Magazine voller Tipps für junge Mütter sind, sehnt sie sich doch seit langem vergeblich nach einem Kind. Um den Frust wegzustecken, konzentriert sie sich flugs auf die Nachteile der Mutterschaft. Gehen die TV-Frauen nach der Arbeit aus, spaziert Mercan – zum ersten Mal im Leben – auf den Platz ihres Viertels Samatya, setzt sich in ein Lokal und trinkt ein Bier. Schnell aber wird ihr die eigene Courage unheimlich, sie flieht zurück vor den Fernseher. Es dauert eine Weile, bis sie sich zu fragen beginnt, warum sie nur die „Mätresse des Fernsehens“ sein soll, statt ihr Leben selbst zu gestalten.
Um religiöse Stätten in entfernten Stadtteilen aufzusuchen, beginnt sie, die auf der Arbeit niemals fehlte, sich hin und wieder freizunehmen, schützt Termine ihrer – imaginären – Kinder vor. „Sag es gleich, wenn du nicht arbeiten willst“, schnippen die Hausfrauen. Von Wollen kann keine Rede sein, doch Mercan ist gezwungen zu arbeiten. Sie lernt, die kleinen Ausflüge zu genießen und die Stadt mit völlig neuen Augen zu betrachten. Nun hetzt sie nicht mehr wie sonst mit gesenktem Blick durch die Gassen zur Arbeit. Toll, wie sie den Kopf hebt und die Augen öffnet! Zu schade nur, dass sie doch immer wieder umkippt und sich an Illusionen klammert, statt dem Impuls zu vertrauen, selbstbestimmt zu leben.
Für Mercan, die in ihrem Glauben verhaftete alevitische Frau, ist der Besuch religiöser Stätten, um Gelübde für einen bestimmten Wunsch abzulegen, ein üblicher Brauch. Für die Leserin hierzulande bieten sich spannende Einblicke in eine Volksfrömmigkeit, die auch in urbanem Umfeld heute noch lebendig ist. Die alevitische Gedenkzeremonie zum 40. Todestag einer Verstorbenen im Erikli Baba-Konvent etwa, mit dem Gebet eines Dede, des alevitischen Geistlichen, durchsetzt von Mercans Gedanken zu seinen rituellen Worten, ist ein außergewöhnliches Leseerlebnis.
Warum ist die Frau so allein, frage ich mich, wo sind Familie, Nachbarinnen, Freundinnen? Bald wird klar: die Familie lebt entfernt im Dorf, und durch die Gentrifizierung des alten Istanbuler Viertels Samatya im Zuge der Stadtentwicklung sind alle Bekannten bereits fortgezogen. Feigenbäume wichen Palmen, die alten Gebäude teuren Apartmenthäusern. Mercan beobachtet den Wandel und stellt sich vor, wie sie ihrem Mann davon erzählen würde – was sie früher, als er noch da war, nie getan hat.
Zerfließt die Leserin nun vor Mitleid, macht sie sich lustig über die zum Teil doch recht naive Frau oder fühlt sie sich als Ignorantin angeklagt? Keineswegs. Gerade weil sie vielfach die Perspektive ihrer Protagonistin einnimmt, die sich in ihrer Not findig zu helfen weiß und trotz aller Fehlschläge nicht in Fatalismus abgleitet, gelingt Şahiner eine so empathische wie humorvolle Gratwanderung. „Wenn wir gemeinsam lachen“, postuliert sie im Interview, „können wir die Verhältnisse vielleicht auch gemeinsam bekämpfen.“
Seray Şahiner weiß, wovon sie spricht. Um die Tätigkeit ihrer Protagonistin authentisch schildern zu können, reinigte sie selbst das Treppenhaus im Wohnblock der Mutter. Keine der Nachbarinnen, die sie seit Jahren kennen, habe sie erkannt oder auch nur gemerkt, dass eine andere als die seit Jahren dort tätige Frau putzte. Ein laues „Kolay gelsin“ (Möge die Arbeit leichtfallen) war alles, was ihr sporadisch hingeworfen wurde, wenn sie an den Wohnungstüren Wasser für den Putzeimer holte. Diese Erfahrung der Reinigung vom fünften Stock bis zum Eingang bildet, aus Mercans Perspektive erzählt, den Abschluss des Romans. Als sie den letzten Eimer schäumendes Schmutzwasser vor der Haustür auf die Straße gießt, akzeptiert Mercan, dass ihr Mann, falls er doch eines Tages heimkommen sollte, sie nicht mehr finden wird. Auch ihr Haus wird abgerissen, in drei Monaten muss sie raus sein. Doch wohin? Und wird es Mercan gelingen, die Fesseln der sozialen Konventionen wie auch der eigenen Gewohnheiten abzustreifen und fortan ihr Leben bewusst selber zu gestalten?
Gern wüsste ich, wie es weitergeht, aber das wäre ein anderer Roman. Mit Mercan, der Heldin ihrer Milieustudie Kul, diesem „alternativen Istanbul-Roman“, hat Seray Şahiner einer Repräsentantin der vielen dienstbaren Geister, die im Niedriglohnsektor mühselig ihr Brot verdienen, ein Gesicht gegeben – und uns Leser:innen den Anstoß, diese künftig zumindest zu „sehen“.
Seray Şahiner: Kul. Roman. Can Yayınları, Istanbul 2017. Neuauflage: Everest, Istanbul 2019. (Orhan-Kemal-Romanpreis 2018)
*Kul, wörtlich „Sklave/Sklavin“, ist hier im Sinn von „Kind/Diener:in Gottes“ verwendet.
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