Batman/Südosttürkei, Ende 2006, der jungen Lehrerin Zehra fallen zwei Lebensberichte in die Hände: das Tagebuch eines seit einer Woche verschwundenen, vermutlich entführten Freundes und anonyme Briefe einer Frau, die von ihrer entsetzlichen Kindheit Anfang der 1990er erzählt. Beide offenbaren vielfach verdrängte Erinnerungen an die Hizbullah-Morde und die Welle der Suizide von Frauen und Mädchen in der Region. Mit ihrem Debütroman Mevsim Yas [Jahreszeit Trauer] taucht die kurdische Autorin Mehtap Ceyran mitten in kollektive Traumata ein und erzählt, „weil man nicht vergessen kann“* …
Über Zehra erfahren wir nicht viel, sie ist dabei, eine belastende Beziehung zu verarbeiten, aus der sie sich endlich lösen konnte. Immer wieder bei ihr eingehende, mit „Hizbullah“ unterzeichnete kryptische Mails hält sie für dumme Scherze pubertierender Schüler, ist aber doch beunruhigt. Die Stimmung in der Stadt ist von Straßensperren, massivem Polizeiaufgebot, Kundgebungen, geschlossenen Rollläden vor Geschäften und Betrieben, von Schießereien und Straßenschlachten geprägt. Zehra sorgt sich vor allem um Taha, den seit einer Woche verschwundenen Tagebuchschreiber. Ist auch er ein Opfer der Hizbullah? Die islamistisch-kurdische Organisation verschleppte und ermordete, mit staatlicher Billigung und zum Teil Unterstützung, vor allem zu Beginn der 90er Jahre in der Region Diyarbakır etliche Menschen. Anfang der 2000er Jahre wurden ihre Folterzentren mit Überresten ihrer Opfer entdeckt, die sogenannten „Grabhäuser“. Nun versuchten Angehörige von Verschwundenen, per DNA-Test ihre Söhne, Brüder, Väter zu identifizieren. Im Buch ist es Sait, Tahas Partner im Kräuterladen, der verzweifelt nach den Gebeinen seines Sohnes sucht.
Taha beginnt sein Tagebuch im Dezember 2006, als er spürt, dass die Drohungen der wieder aktiven Hizbullah gegen ihn ernst zu nehmen sind. Sein ganzes Leben ist von Depression geprägt:
Heute morgen legte sich wieder der Trübsinn auf meine Schultern. Ich kann es nur als die Schwere des Seins bezeichnen. (…) Seit meiner Kindheit drehe ich mich stets um diesen Jammer. Die Trübsal packte mich erstmals an dem Tag, als mein Onkel ermordet wurde.
Das ist 17 Jahre her, seither hat er sein Leben nie wieder in den Griff bekommen, konnte weder das Studium abschließen, noch der Frau, die er liebt und zum Überleben braucht, seine Zuneigung gestehen. „Unser Leben sind die vom Staat zerstörten Geschichten“, klagt er.
Zehra liest parallel dazu anonyme Briefe, die in ihrem Briefkasten landen. Warum erhält gerade sie diese Briefe und von wem? Sie tippt auf eine Freundin, traut sich aber nicht, diese darauf anzusprechen. Zu schrecklich ist, was die Schreiberin über ihre Kindheit in einem Außenviertel Batmans berichtet: Nicht genug damit, dass der trinkende, gewalttätige Vater die Familie brutal drangsaliert und nach dem Tod der Mutter, als das Mädchen acht war, eine Frau ins Haus holt, die jedes Klischee einer „bösen Stiefmutter“ toppt, auch nehmen sich in der Straße immer wieder Mädchen im Alter ihrer fünf Jahre älteren Schwester das Leben.
Das Thema “Frauensuizide” wurde in der Türkei als Folge „posttraumatischer Belastungsstörungen“ abgetan und verdrängt. Tatsächlich hatten Gewalterfahrungen und Perspektivlosigkeit viele der jungen Frauen in den Tod getrieben, manche waren aber auch von Angehörigen ermordet worden, was als Suizid verschleiert wurde. Ceyrans Erklärung in Mevsim Yas lautet:
Verbitterung. Man hatte die Mädchen unserer Straße vergrätzt. Eine nach der anderen nahm sich das Leben. Niemand sah sie. Sie aber wollten sichtbar sein. Sie wollten, dass die ganze Welt sieht, wie gekränkt und verbittert sie sind. Das war ihre harte, abrupte Antwort. Sie wählten diesen Weg, um gesehen zu werden.“
Das Gegenteil aber geschah: die Mädchen wurden vielfach nicht einmal betrauert. Denn was als „nicht erlebt gilt, kann schließlich auch nicht betrauert werden.“ (Ceyran im Interview) So schickt, als die ältere Schwester der Briefschreiberin das Leiden nicht länger erträgt und ihrem Leben ein Ende setzt, der Vater alle Trauergäste fort, wäscht und begräbt ihren Leichnam eigenhändig.
Doch gemeinsame Trauerrituale sind ein wichtiger sozialer Kitt. Das Buch trägt „Trauer“ schon im Titel. Gleich zu Beginn fotografiert Zehra einen Grabstein auf dem Friedhof und wundert sich darüber, dass er unbeschriftet und komplett geschwärzt ist. Später erfährt sie, dass es sich um die Verzweiflungstat einer Angehörigen handelt, die aus Protest dagegen, dass ihre Schwester nicht betrauert werden durfte, deren Grabstein schwärzt. Die Kindheit der Briefschreiberin ist von Taziye geprägt, den rituellen Kondolenz-Besuchen, zu denen sich Verwandte und Bekannte im Trauerhaus versammeln. Im Buch werden täglich, manchmal stündlich neue Morde, Suizide oder Öffnungen von Hizbullah-Grabhäusern gemeldet. Die Trauer liegt den Menschen wie ein dichter Nebel auf dem Gemüt. Die eigentliche Funktion von Trauern aber – Verarbeiten, Abschluss einer Phase und Beginn einer neuen* – kann so nicht erfüllt werden, vielmehr haftet die ungelöste Trauer fest, so dass die Protagonisten wie benommene Schatten durch ihr Leben wandeln. Hier ist selbst die Liebe der Trauer unterworfen, sie bleibt unerfüllt, ungelebt, meist sogar unerklärt.
Die Ich-Erzählerin der Briefe verkriecht sich nach dem Tod der Mutter unter dem Sofa. Als sie der Schwester ein traumatisches Erlebnis aus der Schule berichtet, erklärt diese: „Das hast du dir nur ausgedacht.“ Nicht, weil sie ihr nicht glauben würde, sondern um sie zu schützen – vor dem Zorn des Vaters, vor der harten Realität. Die Kleine macht sich das „Nur-Ausgedacht-Narrativ“ zu eigen, so ist vieles leichter zu ertragen. Bis die Schwester eines Tages sagt:
Du warst schon immer so. Deine Märchen waren voll von prügelnden Menschen, Folterknechten, Unterdrückern und Mördern. Deine Helden litten, starben, brachten sich um, wurden ermordet, und die Schuld dafür gabst du dir selbst. Aber das alles ist kein Traum oder Märchen. Du bist jetzt groß. Jetzt musst du alles akzeptieren, wie es ist. Lerne, damit zu leben.
Nach dem Tod der Schwester verstummt das Mädchen für viele Jahre. Im Internat, wo Verwandte sie unterbringen, schläft sie unter dem Bett, wofür der Rektor sie so unermüdlich wie vergeblich straft, bis sie den Kampf gewinnt. Eines Tages führt eine Lehrerin sie in die Schulbibliothek, die Bücher öffnen ihr eine Tür ins Leben. Verstörend: die aus Bücherspenden aufgebaute Schulbibliothek ist verschlossen und den Schüler:innen verboten. Denn: „Man war überzeugt, dass Kinder, die Bücher lesen, später Kommunisten werden.“ Das Mädchen liest lange nur die Bücher, die der bewunderte, doch bald ermordete Onkel Medet erwähnt hatte – in seinen Briefchen an sie, die er ihr in den Jahren, als sie verstummt alle Menschen floh, durch die Gartenmauer schob.
Dieser Medet ist einer von nur zwei Lichtblicken in dem deprimierenden Buch. Er, dessen Name sinnfällig „Beistand/Hilfe“ bedeutet, ist offensichtlich politischer Aktivist, auch wenn wir davon nur am Rande erfahren, ein guter Mensch, der einzige, dem das Mädchen vertraut. Er steht für die devrimci Abiler, „revolutionäre ältere Brüder“, die für bessere Verhältnisse kämpfen, das kollektive Gedächtnis der Linken in der Türkei verehrt sie als Helden. Medet sei eine der „heimlichen Hauptfiguren, auch wenn sie wie eine Nebenfigur wirken“, verriet die Autorin im Interview. Der zweite Hoffnungsträger ist der (namenlos bleibende) Anwalt in der Zehra-Erzählung. Er kümmert sich unermüdlich, hilft, wo er kann. Er dürfte einer jener „revolutionären älteren Brüder“ von damals sein, die überlebt haben und Rechtsanwalt wurden, um sich auf diese Weise weiter für Menschen- und Bürgerrechte einzusetzen.
Am Ende führt die Autorin die drei Erzählstränge Zehra, Taha und anonyme Briefschreiberin auf überraschende Weise zusammen. Beide SchreiberInnen äußern explizit, etwas hinterlassen zu wollen. Mevsim Yas atmet das Klima von Gewalt, Bedrohung, Depression und Perspektivlosigkeit mehrerer Generationen während des Bürgerkriegs zwischen türkischen Sicherheitskräften, der kurdischen PKK und islamistischer Hizbullah in der Region. Die literarischen Schwächen, die das Buch unübersehbar auch aufweist, treten hinter dem Anliegen der Autorin, Zeugnis abzulegen, zurück. Zeugnis von Geschehen und Erfahrungen, die im kollektiven Gedächtnis verdrängt, damit aber natürlich keineswegs ungeschehen gemacht sind. Vielmehr bilden sie die Vergangenheit der Menschen in der Region, deren Leben sie, mehr oder weniger latent, bis heute bestimmen.
Mehtap Ceyran: Mevsim Yas [Jahreszeit Trauer]. Roman. Sel, Istanbul 2017.
Hintergrund:
* Zitate von Ayhan Geçgin, der eine hervorragende Analyse des Buches hinsichtlich Traumata und Trauer vorlegte (nur Türkisch).
– Die Stimmung 2006 in Batman, das Wiederaufleben der Hizbullah und ihre Hintergründe beschrieb eindringlich die Journalistin Amalia van Gent.
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