„Es war einmal ein hungriger Löwe, der bezeichnete jeden Ort, den er betrat, als sein Reich …“ Mit leiser Stimme, fast schüchtern liest der syrisch-kurdisch-deutsche Autor Berzan Kejo am 21. Juli 2016 in der Hamburger Werkstatt3 aus seinem autobiographischen Roman Ro Jîn – Sonne des Lebens. Kejo wirkt älter als auf dem Autorenfoto, enttäuschter vielleicht, sicher desillusionierter. Das Buch sei sein „Beitrag zum syrischen Volksaufstand als staatenloser Syrer aus dem Ausland“, betont Kejo im anschließenden Podiumsgespräch. Er lässt keinen Zweifel daran, wie sehr er auch nach 30 Jahren Exil mit seinem Heimatland mitfühlt und mitleidet, wie frustriert aber auch er über die Jahre als Flüchtling in Deutschland ist. Im Gespräch mit seinem Verleger Madjid Mohit und der syrischen Autorin Roza Yassin Hassan, die, seit 2012 in Deutschland, ihr Buch Wächter der Lüfte (Alawi-Verlag 2013) vorstellte, klingt Kejo gar ein wenig neidisch auf die scheinbar privilegierte Behandlung der aktuell ankommenden syrischen Bürgerkriegsflüchtlinge: „Manchmal denke ich, ich wäre gern heute mit der Fluchtwelle über die Balkanroute gekommen, weil es heute Angebote wie die Integrationskurse gibt, solche Chancen hatten wir damals nicht.“
Berzan Kejo, Allround-Künstler, Maler, Bildhauer, Designer, Filmemacher, gelangte nach achtjähriger Flucht-Odyssee, Anfang 1986 nach Deutschland, seine Fluchtgeschichte aus den 70er/80er Jahren schrieb er erst jetzt auf, wohlgemerkt auf Deutsch, angelegt auf eine Trilogie von drei Bänden, Ro Jîn – Sonne des Lebens, erschienen 2012 im engagierten Bremer Sujet-Verlag, ist Band eins. Wie sein Held Dilo stammt er aus dem syrisch-kurdischen Qamischlo, arabisch Al Kamishly.
Als Dilos Vater den Sohn lieber mit dem älteren Bruder zur Arbeit schickt, statt ihn weiter zur Schule gehen zu lassen, beschließt der Junge, seinem Traum zu folgen: Paris, Freiheit, Selbstverwirklichung! In Ro Jîn kommt er über Aleppo und Damaskus bis Beirut. Der erste Job, die erste schwärmerische Liebe, der erste (gekaufte) Sex, die erste Zigarette, durch die Lebensumstände rasch wechselnde Freundschaften, Gelegenheitsjobs, eine militärische Grundausbildung bei der Fatah im Libanon, so zieht sich die Geschichte auf der Folie des Dramas, als staatenloser Kurde nicht einmal im eigenen Land Bürgerrechte zu haben, dahin. Ohne Pass ist kein legaler Job, kein Hotelzimmer zu bekommen, keine Ausreise möglich. Die beiden Pole der Reise, denn Dilos Migrationsgeschichte ist vor allem eine Reise: einer besseren Zukunft, einem Traum und auch dem Erwachsenwerden entgegen, bestehen in der starken Verbundenheit zum kurdischen Volk einerseits und seinem ausgeprägten Freiheits- und Schaffensdrang andererseits. Es sind fast immer Kurden, die dem Jungen weiterhelfen; Angehörigen anderer Ethnien und Religionen begegnet er mit Skepsis, oft mit handfesten Vorurteilen, sieht sich als „Opfer arabischer Chauvinisten“. Von Palästinensern lässt er sich anwerben und aus Syrien hinaushelfen, weil er in ihnen Gleichgesinnte erkennt: „Was die israelische Regierung mit den Palästinensern macht, macht das syrische Regime mit uns Kurden.“
Kejos Held bedient häufig Klischees, derer sich der Autor gar nicht bewusst zu sein scheint: Selbstverständlich liebt er die Mutter über alles und die Heimatstadt ist der schönste Ort der Welt. „Warum kommt man auf die Welt? Um gequält zu werden?“, fragt er sich suggestiv. Selbst als er seinen Job im Hotel verliert, zieht er lieber das Klischee des überall vertriebenen, unterdrückten Opfers heran, statt sich eigene Fehler einzugestehen: Welches Hotel würde dulden, dass ein Angestellter etwas mit einem Gast anfängt? In Damaskus holt ihn nachts die Polizei aus einem Hotel, das ihn aufnahm, obwohl er keinen Pass vorlegen konnte, er wird misshandelt, bis er die Beamten besticht, so sind auch Willkür und Korruption staatlicher Kräfte thematisiert. „Diese Erde [Syrien] ist die sauberste, reine Erde der Welt, aber die Menschen, die darauf leben, sind der letzte Dreck.“
Lange muss Dilo ohne echte Freunde auskommen, da bleiben ihm nur Papier und Stift und er malt sich Frust und Hoffnungen von der Seele. Immer wieder schmerzt ihn Routine, in Jobs, bei der Miliz. „Er wollte alles, nur keine Wiederholungen, keinen starren Alltag, keine Isolation und nichts, was ihn blockierte“, denn er ist von seiner Kreativität und Schöpfungskraft überzeugt.
Zunehmende Selbstmordattentate geben ihm zu denken. „Man lebt doch nur einmal und stirbt dann, die Spuren bleiben, sie sind entweder gut und ewig oder schlecht und kurz. (…) Einmal mit Ehre sterben ist besser, als tausendmal ohne Anerkennung zu leben.“ Er zweifelt allerdings selbst an dieser Überzeugung. Nachdem ihn unvermutet die Familie findet und er seine Mutter wiedersieht, beschließt er, die palästinensische Einheit zu verlassen, wird nun aber selbst für einen Spion gehalten, schwer gefoltert und in eine Kellerzelle geworfen. Es dauert Monate, bis er gerettet wird. Ohne Groll gegen die Palästinenser – „Es geht ihnen noch schlechter als uns Kurden.“ – folgt er Ende März 1979 der Mutter: in einen neuen Lebensabschnitt und damit in den nächsten Band.
Wer keine große Literatur erwartet, sondern eine persönliche Fluchtgeschichte angereichert mit Lokalkolorid im Plauderstil, manchmal entwaffnend naiv, für den ist Ro Jîn lohnende Lektüre, zumal auch eine Reihe politischer und kultureller Hintergründe vermittelt werden.
In der Anekdote, die Dilo zu seiner Rechtfertigung einem älteren armenischen Ehepaar erzählt, das ihn als Anhalter mitnimmt, übertölpelt der Löwe, symbolisch für das osmanische Reich, die beiden Steinböcke, die Dilo als Vertreter der Kurden und der Armenier sieht, und verspeist am Ende beide. „Ich bin ein Sensibelchen, für mich gab es nur die beiden Möglichkeiten Gewalt [i.e. bewaffneter Kampf] oder Flucht“, erklärt Kejo nach der Lesung in Hamburg und unterstreicht, er fühle sich als Deutscher, Syrer und Kurde. Während die Mitstreiterin auf dem Podium, Rosa Yassin Hassan, die Erfahrung gemacht hat, Inhalte ließen sich über Literatur besser transportieren, da sich die meisten Leute in Deutschland nicht für Politik interessierten bzw. sich im Wirrwarr der Meinungen nicht zurechtfänden, beklagt Kejo, in Deutschland werde politische Kunst „zensiert“. Er könne aber sein Leben nicht von Politik trennen. So ist seine autobiographische Erzählung Ro Jîn – Sonne des Lebens denn auch ein zutiefst politisches Buch.
Berzan Kejo: Ro Jîn – Sonne des Lebens. Sujet Verlag: Bremen 2012.
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