Irgendwo im Osten eines Landes, wo Grenzen nah sind und Menschen Dutzender Religionen, Ethnien und Sprachen leben, nah beieinander und einander doch meist fremd, geprägt von Klima, Natur und Traditionen, siedelt Ayşegül Çelik ihren Zyklus von Geschichten an. Kâğıt Gemiler (Papierschiffe) ist kein Erzählband üblichen Formats, die Episoden sind locker miteinander verknüpft, weisen über das konkret Erzählte hinaus und regen zum Nachdenken über große Dinge an: Zeit, Tod, Einsamkeit …
Çelik führt fantastische Erzählungen, Legenden und Träume zusammen, man fühlt sich an Märchenerzähler alter Zeiten erinnert, doch: „Du wirst sagen, vielleicht sind es gar keine Märchen … Was, wenn es keine Märchen sind?“, warnt die Autorin gleich zu Beginn.
Am Anfang steht eine neunjährige Ich-Erzählerin, Afsun, deren Schwester, gerade 14, als Braut aus dem Dorf geht. Sie fängt zu schreiben an, als die Mutter verschwindet, die ihr das Schreiben beigebracht hatte, aus Einsamkeit, aus Verzweiflung. „Der Bleistift mit der bröckelnden Spitze wusste von allem, was ich dachte, sogar von dem, was ich nicht zu denken vermochte.“ Sie lernt sich selbst kennen im Schreiben und erfährt: „Schreiben bindet den Menschen an die Zeit.“
Mit zwölf kommt Yıldız in die Schwiegerfamilie, dort entdeckt sie den Webstuhl der Großmutter und webt gewissermaßen um ihr junges Leben. Als sie einem Pfau auf einem Wandteppich einen Partner beigibt, öffnet er die Augen. Doch die strenge Moral der Schwiegerfamilie verbietet ein solches Motiv, man schneidet es aus dem Teppich, da fliegen die Vögel auf und davon.
„Verstehen wir die Welt einmal als kunterbunten Drachen, dann wäre der Mensch nur ein Stäubchen an seinem Schweif.“ So beginnt eine wunderbare Schöpfungsgeschichte, die übliche Rahmen sprengt. Es gibt dort auch einen Sprachklempner, „seine Hütte bis oben hin voller Töne“, er werkelt, um „das Geräusch des Flusses, die Farbe der Wolke ganz genau zu treffen“, gibt dann die Wörter den Vögeln mit, die sie unter die Kinder verteilen. Als die Dörfler sich gegen den stillen Kunsthandwerker verschwören, wird er von einer Frau gewarnt, er rettet sich, indem er die Wörter voneinander trennt und damit die Verständigung unter den Menschen unmöglich macht. Am Ende schließen die Wörter die Augen, um erst zu erwachen, wenn einst eine Frau käme, sie und das Basilikumblättchen, das der Mann zwischen die Seiten gelegt hatte, zu berühren und aufzuwecken. Eine kleine Parabel wie sympathische naive Malerei.
Eine wunderschöne Geschichte von Naturverbundenheit und Liebe, die selbst dem Todesengel Azrail widersteht, der als Sturm zu Werke geht, erzählt von einem Ehepaar, das dem Tod ein Schnippchen schlägt, indem es zu einer Platane mit zwei Stämmen zusammenwächst.
Die „Geschichte der Erde“ gab dem Buch seinen Titel: Mari alias Meryem muss für den Totschlag ihres Onkels büßen, indem sie, die junge Christin, dem Führer des muslimischen Nomadenstamm dient, bis sie ihm einen Sohn gebiert, der den gemordeten Vater ersetzen soll. Mari bleibt die Fremde, nimmt klaglos ihr Los hin und faltet, als der ersehnte Sohn, dem sie nicht Mutter sein darf, endlich geboren ist, Papierschiffchen für ihn, um in ihm die Sehnsucht nach dem Meer zu wecken, nach einem anderen Leben. Später ergänzt „Wüstenschiffe“ die Geschichte Maris aus der Perspektive des Sohnes, der erst kurz vor dem Tod des Vaters erfährt, dass diese Frau, an die er sich dunkel erinnert, seine Mutter ist. Er war ihr gram, weil sie ohne ihn den Stamm verließ, um, vermeintlich, ans Meer zu reisen. Hier prallen Religionen und Lebensweisen aufeinander, individuelle Bedürfnisse kollidieren mit Stammesriten. Mari kommt zu dem Schluss, dass es unerheblich sei, ob man sein Schicksal liebe oder nicht. „Die Realität ist ein Schmerz, den man im Herzen trägt.“ Einmal abgesehen davon, wie realistisch eine Papierschiffchen faltende Frau in einem Nomadenzelt in der Steppe ist, stellen sich der Leserin hier grundsätzlichere Fragen: Was ist die tiefere Bedeutung von „Umherziehen“, von „Sesshaftigkeit“? Und: Der Sohn beweist am Ende, dass es möglich ist, einen anderen Weg als den vorgezeichneten zu gehen. Auch dies eine Geschichte, die Mut macht.
Metaphern und Symbole, wie der Pfau (der heilige Engel der Yeziden) oder Papier- und Wüstenschiffe etwa, laden ein, zwischen den Zeilen zu lesen.
Dann ist da Ceylan, ein junges Mädchen, das wiederum als sehr junge Braut über die Grenze gebracht wird. Da das Mädchen und seine Familie auf seltsame Weise verschwinden, meint man, meint man, sie gehörten wohl zur Sippe der Geister. Am Ende aber, als Afsun gemeinsam mit einem Mann, der für sie als Yeziden-Mädchen unerreichbar ist, den fantastischen Wald entdeckt, von dem eine der von ihrer Mutter hinterlassenen Geschichten berichtet, trifft sie dort auch Ceylan wieder und Samet Abi, der sie vor der Zwangsehe gerettet hat. Weiße Schmetterlinge sind es hier, die das Tor zur magischen Welt markieren.
Hier führt die Autorin einen ungewöhnlichen Kunstgriff vor: Wer im Laufe der Geschichten auf wundersame Weise verschwunden oder entrückt worden war, taucht hier wieder auf, doch nicht in einer Realität, wie wir sie verstehen, sondern im fantastischen Wald, den „Gott als Arche Noah nutzt, um beizeiten alles von Neuem zu schaffen. „Geht nicht, draußen ist Wüste“, lautet die Warnung zum Schluss.
Die „letzte Geschichte“ richtet sich dann noch einmal an die Leser: Nicht Gott errichte das Paradies, sondern wir selbst. Hinter dem „zerschlagenen Spiegel“ der alltäglichen Gewalt komme eine andere Welt zum Vorschein, eine lebenswerte Welt. Die Geschichten sind ein Plädoyer für Emanzipation, für die Befreiung von jenen, die uns ein Leben vorschreiben wollen, von einem nicht aus dem Herzen heraus gelebten „fremden“ Leben.
Unter dem Oleander saß ein Mädchen und stampfte Walnüsse.
Als sie den Kopf hob, sah ich die Tätowierungen in ihrem Gesicht.
Auf Wangen und Stirnen schliefen ihr alte, stille Buchstaben.
Das war Afsun…
Afsun lautet der Name der Ich-Erzählerin, der wir, so heißt es an einer Stelle, die Niederschrift all der Geschichten verdanken, sie ist es, die das Basilikumblättchen findet. Afsun ist nun nicht unbedingt ein typisch yezidischer Name, sondern deutet auf das Fantastisch-Magische, das Betörende der Erzählungen hin: Im persischen Ursprung bedeutet „afsun“ soviel wie „Zauberei“.
2010 wurde bereits das Manuskript mit dem Yunus-Nadi-Preis für Erzählungen ausgezeichnet. Dieser dritte Erzählband der Autorin Çelik ist ein hochpoetisches kleines Werk, das metaphorisch durchaus auch Menschen anderer Kulturkreise, die „gerade durch die Wüste reiten“, einen Weg weisen könnte.
Ayşegül Çelik: Kâğıt Gemiler. Yapı Kredi Yayınları, Istanbul 2010 (Neuauflage: Can Yayınları, Istanbul 2013)
İlginize teşekkürler. „Kağıt Gemiler“ hakkında Türkçede değişik tanıtım yazıları çıkmıştı, internetten bulursunuz. Almanca konuşulan ülkelerdeki yayınevlerinden ilgi gelirse kitap Almancaya da çevrilecek. Bu ümidi ben de paylaşıyorum.
Google Translate aracıklığıyla yazınız hakkında az da olsa bir şeyler anladığımı umuyorum, ellerinize sağlık. Dilerim bu yeni baskı Almanca’ya da çevrilir ve Ayşegül Çelik okuyanlar çoğalır.