Istanbul im Februar 2001: Geradezu unbedarft stolpert Maya, alleinerziehende Mutter und PR-Frau an der Universität Istanbul, in die Vergangenheit hinein, als sie den Auftrag bekommt, sich um Prof. Maximilian Wagner aus Boston zu kümmern. Der 87-jährige amerikanische Jurist mit deutschen Wurzeln ist zu einem Vortrag in Istanbul geladen. Wieso aber folgen ihm auffällig-unauffällig drei Männer in weißem Renault?
Nach und nach lüftet der türkische Autor Zülfü Livaneli in seinem jüngsten, im Frühjahr 2011 erschienenen Roman Serenad (Serenade) die Schleier des Vergessens und der Geheimnisse, die seine Protagonisten umgeben. Kräftig unterstützt wird er dabei von Mayas Sohn Kerem, 14, internetsüchtig und von der Welt genervt. Den Agententhriller, den seine Mutter ins Haus bringt, lässt er sich nicht entgehen und holt wichtige Informationen für Maya aus dem Netz.
Maya glaubte, das „Geheimnis“ ihrer armenischen Großmutter Semahat alias Mari allein zu hüten, nun setzt der Geheimdienst es als Druckmittel gegen sie ein. Als die Lage ernst wird, eröffnet ihr der Bruder zudem, auch die Großmutter mütterlicherseits sei unter falscher Identität aufgewachsen und habe die Herkunft verschwiegen: als Krimtürkin gehörte Großmutter Ayşe einer doppelt verratenen Minderheit an, die herumgestoßen und schließlich größtenteils in den Tod getrieben wurde.
Livaneli ist vielen vor allem als Musiker präsent, in Serenad zollt er der Musik schon im Titel seinen Tribut. Die „Serenade für Nadia“, die sich ewig an Schuberts Serenade wird messen lassen müssen, untermalt den Roman nach Art eines Grundtons. 1934 von einem aufstrebenden Assistenten der Rechte in München komponiert, erklingt sie fast 70 Jahre später am Strand des Schwarzen Meeres bei Şile unweit von Istanbul an einem eisigen Februarmorgen, an dem der Regen bald in dichten Schnee übergeht. Maya tut alles dafür, damit der Violinist, ihr betagter Schützling, nicht an Unterkühlung stirbt – ein Fehler, wie sie am Schluss des Romans erkennen muss. Es war kein Zufall, dass Max Wagner ausgerechnet am 24. Februar diese Stelle aufsuchte: Am 24. Februar 1942 war hier dicht vor der Küste die Struma versenkt worden, mit über 700 jüdischen Flüchtlingen aus Rumänien an Bord.
Das Drama der Struma thematisierte 2005 bereits der in Köln lebende armenisch-türkische Schriftsteller Doğan Akhanlı in seinem Roman Madonna’nın Son Hayali (Der letzte Traum der Madonna).
Was den alten Professor mit dem Unglücksschiff verbindet, erzählt Livaneli in einer bewegenden deutsch-jüdischen Liebesgeschichte aus den dreißiger Jahren. Als Wagner nach Tagen im Krankenhaus und einer unendlich langen Nacht des Erzählens abreist, ist für Maya nichts mehr wie zuvor. Den angezettelten Verleumdungsskandal, der sie den Arbeitsplatz kostet, benutzt sie, ihr Leben umzukrempeln. Wagners Geschichte und damit die Geschichte der vor allem jüdisch-deutschen Wissenschaftsemigranten, die im Zuge der türkischen Universitätsreform von 1933 in den 1930er und 1940er Jahren das moderne Hochschulwesen der Türkei maßgeblich mitaufbauten, lässt sie nicht mehr los. Auch hatte Wagner ihr das Versprechen abgenommen, Erich Auerbachs Mimesis endlich ins Türkische zu übersetzen, hatte der Literaturwissenschaftler sein Maßstäbe setzendes Hauptwerk doch in Istanbul geschrieben, an jener Fakultät, deren Absolventin sie selbst ist.
Hier kommt die Übersetzerin in mir nicht um einen Einwurf herum: Warum sollte Auerbachs Meisterwerk aus dem Englischen übersetzt werden, wo das Original doch auf Deutsch verfasst wurde und auch in neueren Ausgaben vorliegt? In Livanelis Roman weist Maya ihre Übersetzung (aus dem Englischen) am Ende stolz vor, in der Realität ist Mimesis bislang nicht in türkischer Übersetzung erschienen.
Das Thema der jüdisch-deutschen Wissenschaftsemigration nach 1933 in die Türkei ist, auch wenn es mittlerweile eine ganze Reihe einschlägiger Publikationen gibt, noch immer zu wenig bekannt, sowohl auf deutscher wie auf türkischer Seite. Livanelis Serenad wird, wie an der Hauptfigur Maya exemplifiziert, manchem die Augen für einen erweiterten Blick auf die Geschichte, auf die blinden Flecken in der Vergangenheit öffnen. Der Autor legt seiner Ich-Erzählerin Maya in den Mund, die Geschichte auf ihre Weise wiederzugeben und nicht genau so, wie Max sie ihr erzählt hat – und entbindet sich damit der Pflicht zur historischen Detailtreue, was der Stimmigkeit des Romans aber durchaus dienlich sein dürfte. Nur der aufklärerische Gestus des Autors wirkt zuweilen störend auf die Lektüre.
Zülfü Livaneli bleibt zu danken, dass er sein Renommee weiterhin zugunsten heikler, brisanter, bisweilen tabuisierter Themen einsetzt, den Finger in nationale Wunden legt, wie schon bei Glückseligkeit (2008), um gut lesbar für Empathie und Aufarbeitung zu werben.
Zülfü Livaneli: Serenad. Istanbul: Dogan Kitap 2011.
Stimmt, inhaltlich ist das konsequent, verstößt aber gegen die Übersetzerethik, die verlangt, dass ein Werk, wenn irgend möglich, aus der Originalsprache übersetzt wird und nicht auf Umwegen über andere Sprachen.
Maya spricht nicht deutsch, deshalb übersetzt sie Mimesis aus dem Englischen.
Die deutsche Übersetzung von Gerhard Meier kommt in Kürze beim Klett-Cotta-Verlag heraus :-))
Ich lese es grade und bin recht begeister….schade das es keine übersetzung gibt…Ay