Wird nach Autorinnen aus der Türkei in deutscher Übersetzung gefragt, fällt fast immer und oft einzig der Name Elif Shafak. Selbstverständlich gibt es sehr viel mehr, höchste Zeit also für eine kleine Bestandsaufnahme. Sie soll auch ein Beitrag zur Debatte über die Unterrepräsentanz von Autorinnen im Literaturbetrieb sein, die derzeit unter #frauenlesen #frauenzählen #vorschauenzählen in den sozialen Medien geführt wird. Ergebnisse der Zählung stellten die Literaturwissenschaftlerinnen Nicole Seifert und Berit Glanz jüngst im Spiegel vor. Dort forderten sie abschließend von Verlagen u.a.: „Übersetzt zeitgenössische wie klassische Autorinnen aus den ‚kleinen Sprachen’ …“ Als Literaturübersetzerin aus dem – in Westeuropa als ‚kleine Sprache’ wahrgenommenen – Türkischen kann ich mich da nur anschließen. Wie steht es also um Übersetzungen von Autorinnen aus der Türkei? Elif Shafak taucht in meinem Überblick allerdings nicht auf, nicht weil sie ohnehin bekannt wäre, sondern weil sie vornehmlich auf Englisch schreibt und größtenteils im Ausland lebt, so dass mir schwerfällt, sie als „türkische Autorin“ zu verorten.
Einen Namen als politische Expertin mit flotter Schreibe in Belletristik und Sachbuch hat sich hierzulande in den letzten Jahren vor allem die Journalistin Ece Temelkuran gemacht. Jüngst erschien ihre erhellende Analyse Wenn dein Land nicht mehr dein Land ist zum weltweiten Aufstieg der Populisten (alle Literaturangaben im Anhang). Ebenso lesenswert sind ihr Band Euphorie und Wehmut mit dem sprechenden Untertitel Die Türkei auf der Suche nach sich selbst und ihre beiden Romane Stumme Schwäne über den Militärputsch von 1980 und Was nützt mir die Revolution, wenn ich nicht tanzen kann, eine Road Novel durch die arabische Revolution aus sehr weiblicher Sicht.
In Mehmets Buch von 1999 versammelt die Journalistin Nadire Mater 42 Protokolle türkischer Rekruten, die in den 90er Jahren im Kampf gegen die PKK eingesetzt waren, in der Türkei wurde der Band verboten, die Autorin vor Gericht gestellt. Wie im Militär mit Männern umgegangen wird und das Männerbild in der Gesellschaft allgemein thematisiert auch die Soziologin und Politologin Pınar Selek in Zum Mann gehätschelt, zum Mann gedrillt.
Einen autobiographischen Bericht über den Genozid an den ArmenierInnen von 1915-17 und die Leugnung armenischer Identität in den Folgejahrzehnten schrieb die Rechtsanwältin Fethiye Çetin: Meine armenische Großmutter.
Weiter geht es mit Belletristik: Romane und Erzählungen über moderne Frauen in der Türkei legten in jüngster Zeit die in Berlin und Istanbul lebende Schriftstellerin und Rundfunkjournalistin Menekşe Toprak mit Die Geschichte von der Frau, den Männern und den verlorenen Märchen und Gaye Boralıoğlu mit ihrem Erzählband Die Frauen von Istanbul vor. In Boralıoğlus vorausgegangenem Roman Der hinkende Rhythmus erlebt ein temperamentvolles Mädchen aus einem Istanbuler Roma-Viertel dramatisch den Sprung ins Erwachsenenleben.
In Yazgülü Aldoğans Die Begleitung nimmt eine erfolgreiche Istanbuler Single-Geschäftsfrau einen Escort-Service in Anspruch – und verliebt sich in den jungen Professionellen. Die junge Leyla in Şebnem İşigüzels Am Rand lebt nach dem Ausstieg aus Ehe und Karriere als Schachspielerin am Rand Istanbuls unter Obdachlosen auf einer Müllhalde. Perihan Mağden entwickelt Beziehungsgeschichten zwischen Teenagern in Zwei Mädchen, zwischen Mutter und Tochter in Wovor wir fliehen und in der queeren Szene in Ali und Ramazan. Und Zerrin Soysal lässt in Das Siebentagegebet drei Schwestern mit sehr unterschiedlichen Lebensentwürfen zu nach dem Tod der Mutter zusammentreffen.
Sema Kaygusuz, für ihr Gesamtwerk 2016 mit dem Friedrich-Rückert-Preis der Stadt Coburg ausgezeichnet, machte sich als Erzählerin, Romancière und Essayistin einen Namen. Auf Deutsch liegen ihr Roman Wein und Gold, der experimentelle Erzählband Schwarze Galle sowie zahlreiche Essays in Zeitungen/Zeitschriften vor.
Von den Büchern Oya Baydars, der Soziologin, Journalistin und Grande Dame der politischen Erzählung, sind lediglich die Romane Verlorene Worte und Das Judasbaumtor übersetzt, beide reflektieren das Lebensgefühl der revolutionären Linken in den 80/90er Jahren.
Die 20 Bände der Türkischen Bibliothek mit „Meilensteinen der türkischen Literatur des 20. Jahrhunderts“ versammeln vier bis dahin unübersetzte große weibliche Namen: Die schillernde Freiheitskämpferin und Weggefährtin Atatürks Halide Edip Adıvar mit ihrem Memoiren-Konvolut Mein Weg durchs Feuer. Adalet Ağaoğlu, eine der renommiertesten türkischen Schriftstellerinnen, blättert in Sich hinlegen und sterben 30 Jahre Republiksgeschichte auf. Leyla Erbil erzählt in ihrem seinerzeit
skandalösen Debüt von 1971, Eine seltsame Frau, von der Emanzipation einer jungen Frau zum Sozialismus. Das Buch gilt heute als Aufbruch der modernen Frauenliteratur in der Türkei. Die in der Türkei im Unterhaltungssektor extrem populäre Ayşe Kulin bringt in Der schmale Pfad eine türkische Journalistin und die inhaftierte (reale) kurdische Politikerin Leyla Zana zu einem (fiktiven) Gespräch im Gefängnis zusammen.
In derselben Reihe erschien auch Aslı Erdoğans Rio de Janeiro-Roman Die Stadt mit der roten Pelerine sowie – in einem ambitionierten, aber bereits kurz darauf wieder eingestellten Start-up-Verlag – im selben Jahr Der wundersame Mandarin. Dann wurde sie aufgrund ihrer politisch motivierten Inhaftierung 2016 nachgerade zum Symbol des Widerstands gegen das rechtsautoritäre Erdoğan-Regime – und weiter übersetzt: Essays, sensibel, lyrisch, düster, auch zweisprachig, in dem Sammelband Nicht einmal das Schweigen gehört uns noch und zuletzt ihr bereits älterer Roman Haus aus Stein, in dem sie quasi ihre Hafterfahrungen von 2016 vorwegnahm.
Die Serie Istanbul-Krimis der studierten Juristin Esmahan Aykol um die Buchhändlerin Kati Hirschel mit deutschen Wurzeln, eine Reminiszenz an die jüdisch-deutsche Wissenschaftsemigration 1933-45 in die Türkei, ist ein Sonderfall: Die vier bisher erschienen Bände, zwei davon verfilmt, und ihr Migrationsroman Goodbye Istanbul fanden im deutschsprachigen Raum bald mehr Beachtung als die Originale in der Türkei.
Der Berliner Frauenverlag Orlanda brachte mit politischem und feministischem Anspruch Romane und Erzählungen von Sibel Türker, Hatice Meryem und Pınar Selek heraus. Neben ihrer soziologischer Arbeit Zum Mann gehätschelt, zum Mann gedrillt erschienen dort Seleks Roman Halbierte Hoffnungen und ihre Essays Frau im Exil und Weil sie Armenier sind. Pınar Selek lebt mittlerweile im Exil und schreibt auf Französisch.
Seit 2001 legte der kleine Frankfurter Verlag Literaturca mehrere bekannte türkische Autorinnen wie Pınar Kür, Tomris Uyar, Buket Uzuner, Ayla Kutlu, Füsun Akatlı, Erendiz Atasü, Nurdan Gürbilek auf. Die durchweg von der Verlegerin persönlich übersetzten Bücher blieben leider marginal.
Wenig beachtet blieben auch der „Anti-Entwicklungs-Kurzroman“ Kein Leben ohne dich der Autorin Aslı Tohumcu und Das Haus der fünf Sevimen, eine Geschichte von Feen, Kobolden und Träumen der Journalistin Mine Söğüt in dem ambitionierten Kleinverlag Auf dem Ruffel. Ebenso die Erzählbände Schnee auf schroffen Bergen und Helîn roch nach Baumharz der kurdischen Autorin Suzan Samancı. Warum es Büchern aus Kleinverlagen meist an Sichtbarkeit mangelt, müsste gesondert untersucht werden.
Von den Übersetzungen aus der Zeit vor dem Hype türkischer Literatur durch den Nobelpreis für Orhan Pamuk (2006) und den Ehrengastauftritt der Türkei bei der Frankfurter Buchmesse 2008 seien hier nur die magisch-realistische Gecekondu-Geschichte Der Honigberg der Umweltaktivistin Latife Tekin erwähnt sowie Duygu Asenas Die Frau hat keinen Namen, das zu einem feministischen Symbol wurde. Übersetzt wurden auch Schriftstellerinnen wie Füruzan, Aysel Özakın, Sevgi Soysal, die eine Weile in Deutschland lebten.
Darüber hinaus finden sich zahlreiche weibliche Beiträge in Anthologien. Für unser Thema ist der schmale Erzählband Frauen in der Türkei mit Texten von sechzehn Autorinnen von Belang (1988, herausgegeben von Hanne Egghardt und Ümit Güney).
Ein eigenes Kapitel sind Schriftstellerinnen mit türkischen Namen, die auf Deutsch schreiben, von Alev Tekinay, Emine Sevgi Özdamar bis hin zu Güner Yasemin Balcı. Da sie sich für Deutsch als Literatursprache entschieden haben, ordne ich sie nicht der türkischen, sondern der deutschsprachigen Literatur zu.
Fazit: Auf den ersten Blick scheint die Bilanz nicht allzu negativ, aufs Ganze gesehen sind aber auch in diesem Segment Autorinnen gegenüber übersetzten Autoren aus der Türkei unterrepräsentiert. Es bleibt zu hoffen, dass auch bei Übersetzungen aus dem Türkischen Autorinnen stärker in den Fokus rücken, Verlage und Leser*innen finden!
Nachtrag 04.02.2020: Zwei Übersetzungen aus dem engagierten Nischenverlag Dağyeli sind nachzutragen: Nalan Barbarosoğlus Silbernacht, in dem sich eine Frau blutig für das ihr angetane Leid rächt, sowie Die Stadt der verlorenen Lieder mit Istanbuler Skizzen von Jale Sancak. Desweiteren müssen in jüngerer Zeit erschienene Nachdrucke bzw. Neuauflagen Erwähnung finden: Adalet Ağaoğlus „Gastarbeitergeschichte“ Die zarte Rose meine Sehnsucht und Sevgi Soysals Tante Rosa über eine aufmüpfige bayrische Katholikin. In die Liste mit aufgenommen, aber hier nicht weiter erwähnt, wurden zwei Bücher aus einem kleinen Verlag in Hessen, da dieser es weder auf seiner Website noch bei den Meldungen an den Buchhandel für nötig hält, Übersetzer*innen zu nennen. Lyrik habe ich ausgespart, Übersetzungen liegen u.a. von Gülten Akın, Lale Müldür, Gonca Özmen im Elif Verlag vor.
> Fehlt euch eine Autorin/ein Buch? Fallen euch weitere übersetzte Autorinnen ein? Nutzt die Kommentarfunktion!
Literaturliste
Adıvar, Halide Edip: Mein Weg durchs Feuer. Erinnerungen (2010), Ü (aus dem Türkischen und Englischen): Ute Birgi.
Ağaoğlu, Adalet: Sich hinlegen und sterben. Roman (2008), Ü: Ingrid Iren. Die zarte Rose meiner Sehnsucht. Roman (2016, Nachdruck von 1979), Ü: Wolfgang Scharlipp.
Aldoğan, Yazgülü: Die Begleitung. Roman (2012), Ü: Monika Demirel.
Asena, Duygu: Die Frau hat keinen Namen. Roman (1999), Ü: Barbara Yurtdaş.
Atasü, Erendiz: Das Lied des Meeres. (2004), Ü: Christel Schütte. Die andere Seite des Berges. (2018), Ü: Beatrix Caner.
Aykol, Esmahan: Hotel Bosporus (2001), Ü: Carl Koß. Backschisch (2004), Ü: Antje Bauer. Scheidung auf Türkisch (2010), Ü: Antje Bauer. Istanbul Tango (2016), Ü: Antje Bauer. Goodbye Istanbul (2008), Ü: Antje Bauer.
Barbarosoğlu, Nalan: Silbernacht. Roman (2008), Ü: Helga Dagyeli-Bohne.
Baydar, Oya: Das Judasbaumtor. Roman (2011). Verlorene Worte. Roman (2008). Ü: Monika Demirel.
Boralıoğlu, Gaye: Der hinkende Rhythmus. Roman (2013), Ü: Recai Hallaç. Die Frauen von Istanbul. Erzählungen (2016) und Der Fall Ibrahim. Roman (2016), Ü beide: Wolfgang Riemann.
Çetin, Fethiye: Meine Großmutter. Erinnerungen (2004), Ü: Christina Tremmel-Turan / Tevfik Turan.
Erbil, Leyla: Eine seltsame Frau. Roman (2005), Ü: Angelika Gillitz-Acar / Angelika Hoch.
Erdoğan, Aslı: Die Stadt mit der roten Pelerine. Roman (2008), Ü: Angelika Gillitz-Acar / Angelika Hoch. Der wundersame Mandarin. Roman (2008), Ü: Recai Hallaç. Nicht einmal das Schweigen gehört uns noch. Essays (2017), Ü: div. Das Haus aus Stein. Roman (2019), Ü: Gerhard Meier.
Hepçilingirler, Feyza: Die Hochzeitsnacht. Erzählungen (2005), Ü: Beatrix Caner.
İşigüzel, Şebnem: Am Rand. Roman (2008), Ü: Christoph Neumann.
Karaca, Leyla: Klang des Herzens. Erzählungen (2018), Ü: Sabine Çorlu.
Kaygusuz, Sema: Wein und Gold. Roman (2008), Ü: Barbara Yurtdaş. Schwarze Galle. Geschichten (2013), Ü: Sabine Adatepe.
Kür, Pınar: Mordsfakultät. Krimi (2008). Ein verrückter Baum. Erzählungen (2006), Ü: Beatrix Caner.
Kulin, Ayşe: Der schmale Pfad. Roman (2010), Ü: Angelika Gillitz-Acar / Angelika Hoch.
Mağden, Perihan: Ali und Ramazan. (2011). Wovor wir fliehen (2010). Zwei Mädchen (2008). Romane, Ü: Johannes Neuner.
Medoğlu, Nuran: Jacaranda: Der unendliche Weg. Reisetagebuch (2016). Ü: Sabine Çorlu.
Mater, Nadire: Mehmets Buch. Sachbuch (2001), Ü: Johannes Cassar [Pseudonym].
Meryem, Hatice: Hauptsache ein Ehemann. Kurzgeschichten (2010), Ü: Sabine Adatepe.
Samancı, Suzan: Schnee auf schroffen Bergen (1999). Helîn roch nach Baumharz (1997), Ü: Sabine Adatepe.
Sancak, Jale: Die Stadt der verlorenen Lieder. Literarische Streifzüge durch Istanbul (2010), Ü: Sara Heigl.
Selek, Pınar: Halbierte Hoffnungen. Roman (2001), Ü: Sabine Adatepe / Monika Demirel. Zum Mann gehätschelt, zum Mann gedrillt. Sachbuch (2010), Ü: Constanze Letsch. Frau im Exil. Essay (2013), Ü (aus dem Französischen): Thomas Wollermann. Weil sie Armenier sind. Essay. (2015), Ü (aus dem Französischen): Dorothea Dieckmann.
Soysal, Sevgi: Tante Rosa. Roman (2016, Neuübersetzung), Ü: Ute Birgi.
Soysal, Zerrin: Das Siebentagegebet. Roman (2012), Ü: Çiğdem Özdemir.
Söğüt, Mine: Das Haus der fünf Sevimen. Roman (2008), Ü: Sabine Adatepe.
Tekin, Latife: Der Honigberg. Roman (1993), Ü: Harald Schüler.
Temelkuran, Ece: Wenn dein Land nicht mehr dein Land ist. Sachbuch (2019), Ü (aus dem Englischen): Michaela Grabinger. Euphorie und Wehmut – Die Türkei auf der Suche nach sich selbst. Sachbuch (2015), Ü: Sabine Adatepe / Monika Demirel. Stumme Schwäne. Roman (2017). Was nützt mir die Revolution, wenn ich nicht tanzen kann. Roman (2013). Beide Ü: Johannes Neuner.
Tohumcu, Aslı: Kein Leben ohne dich. Kurzroman (2008), Ü: Christina Tremmel-Turan und Tevfik Turan.
Toprak, Menekşe: Die Geschichte von der Frau, den Männern und den verlorenen Märchen. Roman (2017), Ü: Sabine Adatepe.
Türker, Sibel: Jungfernhaut. Roman (2009), Ü: Constanze Letsch.
Uyar, Tomris: Traumverkäufer. Kurzgeschichten (2001), Ü: Beatrix Caner.
Yiğit, Şükran: Ankara, Mon Amour. Roman (2015), Ü: Şükran Yiğit / Stefan Achenbach.
*Angegeben ist jeweils das Erscheinungsjahr der Übersetzung. Ü steht abkürzend für „Aus dem Türkischen von“ – Übersetzungen aus anderen Sprachen sind entsprechend markiert.
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