Mina bohrt die Fingernägel in die Lehmdecke über sich, will die Erde abtragen, aufstehen, gehen, die Straße überqueren, die Stadt erreichen, doch sie hat keine Beine, keinen Unterleib, kein Leben mehr, „unterhalb der Brust ein Haufen Asche“ … Shumona Sinhas dritter Roman Staatenlos beginnt mit einem grausigen Paukenschlag, nimmt der Leserin auf der ersten Seite den Atem, den sie bräuchte, um der Hoffnung zu folgen, die die beiden jungen Frauen aus Indien durch den mühseligen Alltag trägt, macht von Anfang an klar: sie haben keine Chance. Nicht das Bauernmädchen im indischen Dorf Tajpur, nicht die Lehrerin in Paris.
Noch hofft Mina, dass Sam mit seiner Familie redet, sie heiratet, sich bekennt zu dem Kind, das er ihr, dem Mädchen, mit dem er zusammen aufwuchs, in alter Vertrautheit wie nebenbei machte, da wissen wir längst, dass es für sie kein Entkommen gibt von der Feme, von den Nachstellungen sex- und mordgeiler Männer, die sie bereits als Ausgestoßene erkennen, als sie noch an die Zukunft glaubt. Hinausgeworfen von den Eltern, ausgespuckt aus Dorfgemeinschaft und Gesellschaft, Freiwild, das zu jagen sich praktisch jeder aufgefordert fühlt. Dass sie sich für die Bauern engagierte, die ihres Landes beraubt wurden, für sie beim Abgeordneten vorsprach, hilft ihr kein bisschen, im Gegenteil.
So grausam Minas Schicksal ist, verstörender noch ist der alltägliche Kampf Eshas in Paris: Die junge Frau mit bengalischen Wurzeln unterrichtet Englisch an einem Pariser Gymnasium. Das heißt: Sie führt täglich einen Kampf, den sie nicht gewinnen kann, denn obwohl ihre Haut dunkel ist und sie qua Herkunft zu „den Schweinen“ gehört, zur Dienstleistungskaste, ist sie nicht bereit, ihren Anspruch, ein freies, selbstbestimmtes, intellektuelles Leben in der Stadt ihrer Träume zu führen, aufzugeben. Ihre Treffen mit dem Beamten der Einwanderungsbehörde, für die Leserin sogleich als unlauteres Gebaren mit schmutzigen Absichten durchschaubar, von ihr aber mit verzweifelter Hoffnung beladen, führen zu nichts außer dem Angebot: „Können Sie sich vorstellen, mir beim Kampf gegen den Terrorismus zu helfen?“ Und als Schriftsteller Julien, den sie liebt, sich endlich wieder meldet, ist es nur noch Sex, der sie verbindet. Enttäuschungen, wie viele Frauen sie überall auf der Welt erleben. Dazu aber kommen die Übergriffe, verbale wie zunehmend handgreifliche, in der Metro, in der Klasse, vor der Schule, auf der Straße, meist sind es Männer, vor allem selbst Marginalisierte, am Schluss aber gefällt ihr Gesicht zwei Mädchen nicht:
… diese Mädchen, die man zu lange auf der anderen Seite der roten Linie ihrem Schicksal überlassen hatte, in der Peripherie, übertraten jetzt die Zäune, rissen die Türen ein, sie beschwerten sich und forderten wie ihre Brüder, Cousins, Freunde ihren Teil vom Leben, der viel zu lange vergessen und unterdrückt worden war.
Nach Kalkutta, der Geschichte einer Rückkehr zur Beerdigung des Vaters in urbanem Umfeld, ist Shumona Sinha mit Staatenlos ganz nah an ihrer nackten Empörung über die Barbaren in der Herkunfts- wie in der Ankunftsgesellschaft, wie LeserInnen sie aus ihrem Ärgernis erregenden, aufregenden Debüt Erschlagt die Armen kennen.
Wie zu einem dicken Zopf verflochten erzählt die Autorin die Geschichten der beiden Frauen, die eine im rückständigen Dorf unter prekären Lebensumständen, die andere aufgeklärt, gebildet, anspruchsvoll im urbanen Herzen von Europa. Dann ist da noch Marie, die gewissermaßen die Rolle der Mittlerin zwischen „beiden Welten“ spielt: Adoptivkind, als Baby aus einer humanitären Hilfsstation an ein wohlhabendes Ehepaar nach Frankreich vermittelt, sucht sie nach ihren Wurzeln, will ihre richtigen Eltern kennenlernen, reist immer wieder nach Kalkutta, wo sie sich linken AktivistInnen anschließt, die u.a. die Sache der Bauern unterstützen und sie bitten, Mina zu kontaktieren, um die Bauerntochter in ihren Kampf mit einzubeziehen. Über eine Gruppe Feministinnen lernt Esha sie auf Facebook kennen „vom Bildschirm ihres Computers hatte ihr Gesicht sie angelächelt wie ihr eigenes Spiegelbild“, sie korrespondieren zunächst sporadisch, treffen sich später in Paris, doch Maries militantes Engagement ist nicht Eshas Art, der Kontakt bleibt fragil.
Esha meint, „mit der Masse verschmelzen“ zu müssen, glaubt, „die Bienen töten“ zu müssen, „die statt Worten in ihrem Kopf summten, sie bei jedem Schritt begleiteten, ihr folgten, ihr Gesicht umkreisten.“ Schafft sie es, hält sie durch?, fragt sich mit ihrem Lover Julien die Leserin und hofft, dass Esha nicht verzweifelt. Und nein, sie gibt nicht auf. Doch Shumona Sinha ist zu sehr Realistin, um uns ein Happy End zu gönnen.
#realitycheck
Dieses Land war zu einem riesigen Laboratorium geworden, in dem jeder Mensch eine Testperson in einer anthropologischen Studie war und einer ständigen Kontrolle seiner Größe und seiner Farbe, der Form seiner Nase und seiner Nasenlöscher, seiner Pupillen und seiner Haarwurzeln, seiner Hüften und seiner Fußsohlen unterzogen und in aller Öffentlichkeit entkleidet wurde, um seinen Platz in der Gesellschaft zu bestimmen. Die Überlebensbedingungen hingen vom Melaningehalt der Haut ab. Die Welt war eine Pyramide, auf der man aus der Dunkelheit der unteren Etagen ins Licht aufstieg, ins Weiße, in die bessere Rasse.
Nach der Lektüre laufe ich durch die Straßen und frage mich, würde Esha auch hier derartig angefeindet werden, sich derart wie ein Fremdkörper ausgespuckt und als Opfer erkannt, auf Schritt und Tritt erneut zum Opfer gemacht werden? Sind es die sichtbaren geographischen Grenzen zwischen Stadtteilen, zwischen Stadt und Land, die den Unterschied ausmachen, oder die unsichtbaren zwischen „weißen Einheimischen“ mit ihren angestammten Privilegien, und der zweiten, dritten, sich zugehörig fühlenden Generation zuvor Angekommener auf der einen und „dunkelhäutigeren EinwanderInnen“ auf der anderen Seite, die allein aufgrund ihrer Herkunft in ein Schema, eine Klasse gepresst werden, aus denen es kein Entrinnen gibt, jeder Versuch wird grausam bestraft? Könnte Eshas Geschichte auch hier in Hamburg oder in Berlin, in München spielen? In Rostock, in Dresden … ?
Minas Geschichte aus einer „traditionell Frauen unterdrückenden patriarchalischen Dorfgesellschaft“ lässt sich leichter ertragen und wegstecken, weil sie Klischees erfüllt, weil sie weit weg scheint, so entsetzlich sie ist, alles schon tausendfach gehört, man muss sich nicht davon berühren lassen. Esha aber lebt hier, vielleicht saß sie vorhin neben mir in der U-Bahn oder steht jetzt im Café vor mir an der Kasse. Ihr Schicksal ist unseres. Wenn sie hier nicht leben kann, wie können wir es?
Shumona Sinha: Staatenlos. Aus dem Französischen von Lena Müller. Edition Nautilus, Hamburg 2017.
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