Istanbul im Juni 2017, brütende Hitze, ein Anruf: „Wieder ein Mord, Hauptkommissar!“ Damit sind wir mittendrin in Kırlangıç Çığlığı – „Schwalbenschrei“ – dem neuen Buch des türkischen Krimimeisters Ahmet Ümit. Das Opfer liegt oder besser: hockt in der Sandkiste am Fuß einer Rutsche auf einem Spielplatz in Kasımpaşa, eine rote Samtbinde über den Augen, die rechte Ohrhälfte abgeschnitten. Der Mann starb durch einen Nackenschuss und unter seinem Fuß findet Hauptkommissar Nevzat eine Barbiepuppe im rosa Kleidchen. Erschrocken zieht er Parallelen zur Puppe seiner Tochter Aysun …
Berühmt und beliebt für seine besondere Art, historische Themen mit der Gegenwart zu verknüpfen, bleibt Ahmet Ümit mit dem neuen Krimi ganz in der Gegenwart. Er greift in zwei parallelen, ineinander verzahnten Handlungssträngen zwei so brisante wie verstörende Themen auf: Kindesmissbrauch und das Ausnutzen der verzweifelten Lage syrischer Flüchtlinge in der Türkei durch Mediziner, die skrupellos Organhandel betreiben. Damit wirft er Schlaglichter auf zwei nicht nur in der Türkei gern unter den Teppich gekehrte unerträgliche Zustände. Und er tut es auf die gewohnte Art eines Detektivromans: Leichen werden gefunden, Hauptkommissar Nevzat wird zum Tatort gerufen und macht sich mit seinem Team an die Ermittlungen. In mühseliger Puzzlearbeit und unzähligen Gesprächen, Verhören und Gedankenspielen kreisen sie die möglichen Täter ein.
Die Opfer mit Augenbinde, abgeschnittenen Ohrhälften und Spielzeugen als Beigabe sind, so stellt sich bald heraus, ausnahmslos bereits aktenkundige Kinderschänder. Ebenso rasch ist die Parallele zu Körebe (Blindekuh) hergestellt, wie der damalige Ermittler Kommissar Zekai einen Serienmörder nannte, der fünf Jahre zuvor auf gleiche Weise bereits zwölf Kinderschänder umgebracht hatte und nie gefasst worden war. Zekai ist inzwischen pensioniert, bittet aber um Aufnahme ins Ermittlungsteam, ist es doch sein persönlicher Ehrgeiz, diesen Täter zur Strecke zu bringen. Unvermutet gerät Nevzats Assistent Kommissar Ali selbst in Verdacht, als er mit der Mordwaffe in der Hand bei einem Opfer ertappt wird …
Ali, der im Heim aufwuchs und dort schlimme Erfahrungen machte, und Kommissar Münir vom Dezernat Kindesmissbrauch bekunden offen Sympathie für den Mörder, da er die Täter bestraft: „Er tut, was wir nicht tun können, er löst das Problem an der Wurzel.“ Sie vermuten, er selbst sei als Kind missbraucht worden.
Münir kennt zudem keinerlei Erbarmen mit syrischen Familien, die eigene oder fremde Kinder der Organmafia ausliefern und damit deren Leben aufs Spiel setzen, um für den Rest der Familie eine neue Zukunft aufzubauen. Es sind die schwächsten Glieder der Gemeinschaft, die dem Organhandel zum Opfer fallen: ein Junge mit Down-Syndrom, ein anderer, der auf der Flucht die Eltern verlor. Als Nevzat sich bei seiner Freundin Evgenia im Garten der Taverne Tatavla über das Zwitschern der Schwalben am Himmel freut, erzählt Evgenia traurig die Parabel, die sie von der syrischen Familie hörte, die sie betreut:
„Das sind keine Freudenschreie, es sind Schreie des Kummers. Schwalben sind doch Zugvögel, sie fliegen sehr schnell. Auf dem Zug kommen Hunderte im Sturm um. Fliegen dann die Überlebenden über den Himmel des Ankunftslandes, gedenken sie ihrer unterwegs verlorenen Kameraden und schreien vor Wut.“
Wer ist Täter, wer Opfer und wer will darüber bestimmen? Es geht viel um Gewissen, um Betroffenheit, um Sühne, um Fragen von Verantwortung und Mitmenschlichkeit in diesem Buch. Man ist als Leserin schnell mit moralischer Empörung dabei, die allerdings im Halse steckenbleibt, als der Mörder im Schlusskapitel eine Art Lebensbeichte ablegt.
Nicht die Liebe und Zärtlichkeit der Mutter hätten ihm als missbrauchtem kleinen Jungen geholfen, sein Trauma zu überwinden, sondern Kritik, Tadel und vor allem die Scham: „Jeder muss sich seinen Fehlern stellen, muss die eigene Schwäche, die eigene Niedertracht und Gemeinheit kennen.“ Vehement hält Hauptkommissar Nevzat dagegen: „Wäre das so, hätten die Heiligen Bücher etwas genützt. Doch nicht einmal die Angst vor der Hölle kann den Menschen bessern. Das können nur mehr Liebe und mehr Wahrheit.“
Das Buch ist ein Appell für mehr Wahrheit, mehr Mitmenschlichkeit. Und an das Gewissen. So lautet denn auch das Motto, das der Autor seinem Aufschrei vorangestellt hat: „Was ist die Hölle anderes als eine Welt, die ihr Gewissen verlor?“
Ein mutiges, ein wichtiges Buch. Zumal in einem Land, in dem Wahrheit und Mitmenschlichkeit zunehmend unter die Räder kommen, in der sich in letzter Zeit Meldungen über Missbrauch in Kinderheimen häufen, von staatstragenden Organen erwogen wird, Vergewaltiger Minderjähriger straffrei zu stellen, wenn sie ihre Opfer heiraten, und die Frage der Integration syrischer Geflüchteter und damit die Zukunft ihrer Kinder völlig ungeklärt ist. Mit Schwalbenschrei legt Ahmet Ümit den Finger in die Wunde, nach der Lektüre kann niemand mehr sagen: „Wir haben nichts davon gewusst.“
Ahmet Ümit: Kırlangıç Çığlığı (Schwalbenschrei), Istanbul: Everest Yayınları, März 2018. (bisher nur auf Türkisch)