Ein stummer Schrei scheint in den Augen des Mädchens zu liegen, ist sie 5 oder 6 oder doch schon älter? Das Unicef-Foto des Jahres 2017 zeigt ein syrisches Flüchtlingsmädchen in Jordanien, vielleicht geht sie ins kollektive Gedächtnis (des Westens natürlich) als „das Mädchen mit der tragischen Schönheit und dem durchdringenden Blick“ ein, dessen Foto einmal Becher humanitär bewegter Menschen zieren wird, für das gute Gewissen beim Weltkaffee … Ein solches Mädchen war Bilqiss, kein Flüchtling, vielmehr eine Waise im zerstörten eigenen Land. Kurz nachdem sie mit dreizehn verheiratet worden war, lichtete ein Fotograf aus dem Westen sie ab. Was mit dem Bild geschah, erfährt sie erst Jahre später, als sie unversehens internationale Aufmerksamkeit erregt und zur Heldin im Kampf gegen die Unterdrückung der Frau im Islam wird. Bilqiss nannte Saphia Azzeddine, die französische Autorin marokkanischer Herkunft, ihre Protagonistin und ihr Buch über einen absurd anmutenden Prozess, in dem die vorverurteilte Angeklagte den Spieß umdreht und ihren Richter und die Gesellschaft anklagt, obwohl oder gerade weil sie minütlich mit dem sicheren Todesurteil rechnet.
Bilqiss, auch als Belkis umschrieben, mythische Königin von Saba oder Äthiopien, steht im islamischen Kulturraum vor allem für Weisheit, verstärkt durch ihre Verbindung zum weisen König Salomon. Als Königin und weise Frau kann sie Dinge tun und sagen, die anderen verwehrt sind. Diesen Vorteil nutzt Azzeddine für ihre Protagonistin.
Ein namenlos bleibendes Land mit ländlichen Strukturen, von islamistischer Gewaltherrschaft geprägt, nach einem Krieg oder noch mittendrin, ein Dorf oder eine Kleinstadt. Die junge Bilqiss ist kinderlose junge Witwe und damit funktionslos in einer klar durchstrukturierten Gesellschaft. Das gibt ihr, solange sie sich öffentlich zurückhält, eine gewisse Freiheit. Aber dann lässt sie sich „unislamisches Verhalten“ zuschulden kommen: Sie erdreistet sich, aufs Minarett zu steigen und zum Gebet zu rufen, mit Sachkunde, doch auf improvisierte eigenwillige Art, zudem mit (auf)reizender Stimme. Da fordert das Volk lautstark: Steinigung! Vor Gericht erscheint sie im Gitterkäfig, vor allem um sie vor den geifernden, lüsternen Eiferern zu schützen. Der Richter zögert das Urteil hinaus und lässt zu, dass sie sich verteidigt. Ihr messerscharfer Verstand, ihre unverblümte Rede scheinen ihm zusehends Spaß zu machen. Dann beginnt er, unerhört!, sie abends in der Zelle aufzusuchen, um mit ihr zu reden. Bald sieht er in ihr die Wiederkehr seiner geliebten ersten Frau, einer selbstbewussten Lehrerin, die sich vor Verzweiflung über die Ehe mit ihm einst das Leben nahm, sie war der jungen Bilqiss leuchtendes Vorbild. Der Prozess, aus beiden Perspektiven erzählt, mutiert zu einer Anklage der heuchlerischen Männermoral im Islam.
Bald kursieren Handyvideos im Internet, Bilqiss wird berühmt, aus New York reist die Journalistin Leandra an, die ihre eigenen Kämpfe mit Chefs und Partner auszufechten hat und hier die Story wittert, die ihr die Karriere sichern soll. Es gelingt ihr, mit Bilqiss und dem Richter zu reden, als soziales Korrektiv fungieren die klugen Frauen ihrer Gastgeberfamilie.
Mit der US-Journalistin, die westliches Helfersyndrom repräsentiert, gepaart mit Katastrophenvoyeurismus, gelangt das Buch auf eine andere Ebene: Begonnen wie eine Geschichte über eine innerislamische Angelegenheit – „bedauernswerte, unterdrückte muslimische Frau als Opfer islamischer Männergewalt“ – ideal für westliche Empörung, zumal mit einer intelligenten, sympathischen Frau, die sich zu wehren weiß, setzt hier ein Clash of Civilizations mit umgekehrten Vorzeichen ein. Zum einen nehmen die Frauen, denen Leandra begegnet, keineswegs dankbar ihre Hilfe an, sondern schlagen ihr stolz die eigenen Motive um die Ohren. Zuleikha, Schwester ihres lokalen Gastgebers, gibt ihr kräftig Kontra und hält ihr – und damit der LeserIn – den westlichen Paternalismus vor Augen. Zuleikhas Mutter belehrt sie:
„Man sollte sich vor seinen eigenen guten Absichten hüten. Es genügt nicht, welche zu haben. Von euch kennen wir nur das Schlimmste: eure Soldaten, eure Söldner, die Plünderungen unseres Hab und Guts und eure entblößten Sängerinnen. Sie kommen hierher zu uns, viel zu schön, zu fröhlich und zu glücklich. Ich weiß, dass Sie unsere Familie schätzen und dass Sie, wenn Sie erst wieder in Ihrem Land sind, häufig erzählen werden, dass wir nicht alle Terroristen sind, dass es hier unglaubliche Menschen gibt, aber das wird an unserem Leben nichts ändern.“
Bilqiss beschwindelt Leandra zunächst, erzählt ihr, was sie hören will, bestätigt die unterstellte Liebesgeschichte mit dem Richter, wehrt sich aber vehement, als Leandra ihr auf die Schliche kommt: „Ich habe Sie nicht belogen (…), ich habe Ihnen nur gegeben, was Sie hier unbedingt finden wollen.“ Was das sein soll? „Eine Geschichte. Ein Thema. Eine Erzählung mit Happy End. Das Porträt einer außergewöhnlichen Frau.“ Sie weiß genau, worum es der westlichen Journalistin geht. Doch: „Von alldem gibt es hier nichts. Es gibt nur den Tod, und das interessiert keinen.“ Bilqiss ist klar, dass sie die Journalistin „nicht empören, sondern höchstens schockieren“ kann. Also tut sie es:
„Sie kommen hierher in mein Land, voller Gewissheiten und falscher Gefühle, und mischen sich mit Ihrer Wohltätigkeit ein, indem sie mir einen inexistenten Kampf aufzwingen, ohne zu wissen, ob ich schuldig oder unschuldig bin.“
Noch in ihrer misslichen Lage als quasi „nackte“ Gefangene verliert Bilqiss nicht ihren Stolz, doch sie ist zu sehr auf Hilfe angewiesen, als dass sie sich leisten könnte, Leandra vollständig zurückzuweisen. Also nimmt sie kleine Gesten und Mitbringsel wie Lebensmittel an. Und bittet Leandra schließlich um einen unerhörten Gefallen: Sie solle den ersten Stein werfen, nicht einen von den kleinen, die nur wehtun sollen am Anfang, sondern einen großen, kantigen, der sie gleich tötet und vor unnötiger Qual bewahrt. Die Journalistin ist schockiert. Sie wollte involviert sein, aber doch nicht auf gleichsam tödliche Weise verstrickt!
„Dieses Abenteuer glich keinem anderen“, notiert Leandra, und genau hier liegt der Hund begraben: Für sie ist es ein Abenteuer, sie ist hier, um zu berichten, den Fall für sich und ihre Karriere zu benutzen, auch, was sie durchaus ehrlich meint, um der armen muslimischen Frau zu helfen, doch stets in dem Bewusstsein, auszusteigen, wann es ihr beliebt, und am Ende abzureisen. Für alle anderen aber, auf die sie dort schaut, über die sie schreiben will, ist es kein „Fall“, sondern ihr Leben, von dem es keinen Urlaub gibt und schon gar keinen Ausstieg. Doch in all ihrem Selbstbewusstsein und dem Willen, ihr Schicksal mit Würde zu tragen, ist auch Bilqiss ambivalent und wünscht sich manchmal, fortgehen zu können. Als Leandra ihr den Kaffeebecher mit ihrem Jung-Mädchen-Foto hinstellt, räsoniert sie im stillen Monolog:
„So lief es nun mal, wenn wir uns solchen Leuten anvertrauten, die gute Absichten hatten, empfänglich waren und aufbegehrten, Leuten von anderswo, für die das Humanitäre eben nur ein Tätigkeitsfeld wie jedes andere war. Ich hatte keine Lust, mich auf Aufklebern, Postern, Taschen und T-Shirts wiederzufinden, ich hatte keine Lust darauf, dass meine Geschichte auf zerknitterten Seiten der Zeitschriften in Wartezimmern ausgebreitet wurde, ich hatte keine Lust, zum Anlass für Relativierungen derer zu werden, die durch mich begreifen, dass sie im Grunde genommen gar nicht so schlecht dran sind, doch im Gegenzug hätte ich mir gewünscht, dass der Fotograf mich mitnimmt.“
Am Ende wirft Leandra tatsächlich den ersten Stein, und er trifft tödlich, allerdings nicht die, die zur Steinigung bis zum Hals eingegraben in der Erde steckt: Bilqiss lebt, und kämpft vermutlich weiter, wie das Vermächtnis des Richters an sie lautete.
Auffällig ist, dass die Frauen in diesem Buch durchweg das Selbstbewusstsein und die beißende, bis zum Sarkasmus gesteigerte Ironie der Autorin besitzen, Männer dagegen sind entweder minderbemittelte lüsterne Fanatiker und Monster oder bemühte Familienväter, in Tradition und Job gefangene Heuchler, die vorgeben, Gutmenschen sein zu wollen, es aber – die Umstände! die sozialen Zwänge! – nicht können, dumm, dreist und dominant allesamt.
Die Autorin schreibt in Paris auf Französisch, explizit an eine westliche LeserInnenschaft gerichtet. Sie hasst die Opferrolle und lässt sich ebenso wenig wie ihre Protagonistinnen hineindrängen oder bedauern. Bitterböse ist ihr Buch, stellenweise überzeichnet, andererseits ungeheuer realistisch, manchmal „überrealistisch“, nicht im Sinne von surreal, vielmehr ist es „realer als real“ – eine ätzende Karikatur, die sich der Leserin einbrennt, und schmerzt.
Saphia Azzeddine: Bilqiss. Aus dem Französischen von Birgit Leib. Berlin: Verlag Klaus Wagenbach, 2016)
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