• Startseite
  • About
  • Bücher ABC
  • Datenschutz

literarisches Strandgut & mehr

Schwerpunkt Weltliteratur aus Süd, Ost und Süd-Ost

Feeds:
Beiträge
Kommentare
« Mary schweigt
Der erste Stein »

Seher – fiktiv aber wahr

4. November 2017 von Sabine Adatepe

Demirtas-Seher-CoverAuf der Istanbuler Buchmesse Tüyap signieren am 4. und 12. November 28 namhafte AutorInnen ein und dasselbe Buch. Bereits kurz nach seinem Erscheinen im September fand eine Lesung von sieben SchriftstellerInnen aus dem Band statt. Der Autor selbst kann weder signieren noch daraus lesen: Er sitzt als politischer Gefangener hinter Gittern, am 4. November genau ein Jahr. Es muss schon ein besonderer Autor sein, wenn KollegInnen sich derart für ein Debüt einsetzen: Selahattin Demirtaş, Menschenrechtsanwalt und seit 12 Jahren Politiker, ist Ko-Vorsitzender und charismatischer Hoffnungsträger der kurdischen HDP, die er 2015 zum Ärger der AKP-Regierung mit großem Erfolg ins Parlament führte, und berühmt für seine so scharfen wie humorvollen Repliken auf den Staatspräsidenten. Im Gefängnis begann er zu schreiben. Die erste Erzählung druckte Ende 2016 die Zeitung Cumhuriyet, jetzt erschien der Sammelband Seher mit zwölf kurzen Prosatexten.

Schriftsteller in Haft haben „Tradition“ in der Türkei. Nâzım Hikmet u.a. empfanden die Gemeinschaftszellen einst als „Schule“ und ließen sich von Mitgefangenen literarisch inspirieren. Die Zeiten von Gemeinschaftszellen, in denen Solidarität entstehen kann, sind vorbei, heute ist Isolation das Mittel der Zermürbung. Demirtaş ist nicht der erste, der trotz Isolation und schwierigen Seher-sercelerBedingungen schreibt, allerdings kein Lamento und keinen Bericht über seine Situation als Häftling, sondern Belletristik, und zwar lesenswerte.

„Ich habe das Buch den Frauen gewidmet, aber eigentlich ist es eine Botschaft an die Männer“, sagt Demirtaş im Interview (Evrensel, 24.9.17). Es sei ihm nicht darum gegangen, die „Unterdrückung der Frauen“ darzustellen, sondern die „Tyrannei der Männer“. Er wollte „Solidarität üben mit den couragierten Frauen, die den Kampf für die Freiheit der Frau führen, und einen Beitrag dazu leisten, dass die männliche Gesinnung sich einen Spiegel vorhält“. Die „Frauenfrage“ sei ja eher ein „Männerproblem.“

Seher-karga So ist die Titelgeschichte „Seher“ über einen „Ehrenmord“ eine berührende, eine bittere Anklage, die schonungslos männliche Doppelmoral aufzeigt und wie sehr die Menschen am Übergang von Tradition zur Moderne in ihren Rollen gefangen sind, selbst wenn die alten Ehr- und Moralvorstellungen sie zutiefst schmerzen. Es ist nicht nur Seher, die für ihre unschuldige Schwärmerei schwer büßen muss, auch Vater und Brüder sind nicht glücklich über die – vermeintliche – Verpflichtung, die Ehre wiederherstellen zu müssen, dennoch tun sie es. „Seher“ sei eine fiktive Geschichte, sagt der Autor, doch „wir wissen von Tausenden von Sehers, deshalb ist Seher keine Fantasie, sondern echt.“

Seher-mustang „Putzfrau Nazo“ kennt mit ihren 18 Jahren Armut und die Beschränkungen der eigenen Familie und der Menschen im Viertel genau. Sie ist froh, durch ihre Putzjobs der Mutter Last abnehmen zu können, nachdem der Vater früh umgekommen war. Ihm verdankt sie ihre Liebe zu Autos, sie misst Menschen an ihren Fahrzeugen und imaginiert zu Autos deren Besitzer. Durch ihre Augen zeichnet der Autor ein urbanes Gesellschaftsportrait. Auf dem Weg zur Arbeit gerät sie in einen Polizeieinsatz gegen Demonstranten, wird verletzt und unversehens mit anderen verhaftet. Nach 6 Monaten in U-Haft ist sie politisiert: „Warte auf mich, Ankara, man nennt mich die Putzfrau Nazo!“

Die tragische Geschichte „Aleppo-Püree“ schildert den Wahnsinn des alltäglichen Terrors im syrisch-türkischen Grenzgebiet aus der Sicht Betroffener, verwebt Exil und Flucht über Generationen und zeigt, wie stark die Menschen der Region über Staatsgrenzen hinweg einander verbunden sind. Meister Hamdullah aus Aleppo betreibt im türkischen Hatay den dort über 60 Jahre Seher-halep-ezmesiansässigen Familienbetrieb: ein Lokal mit der Spezialität Arabisches Kebab. Seit dem Syrien-Krieg wohnt die gesamte geflüchtete Verwandtschaft bei ihm, darunter auch Rukiye, seine Jugendliebe, mit Mann und Kindern. Er liebt sie immer noch, weshalb er den Kontakt lieber meidet. Als sie Sachen aus ihrem Haus in Aleppo holen wollen, fällt Rukiye dem Anschlag auf den Markt der Stadt zum Opfer, bei dem 68 Menschen starben. Für Hamdullah hat das Leben keinen Sinn mehr. So tragisch sind nicht alle Texte, ein Hauch von Melancholie aber ist durchgehend zu spüren.

Mit einem Schmunzeln erzählt Demirtaş in „Ach, Asuman!“, wie Busfahrer Fahri einen jungen Jura-Studenten, vermutlich ein Alter Ego des Autors, mit einer erfundenen Story über das Pin-up-Girl zum Besten hält, dessen Foto auf dem langsam vor ihnen fahrenden Lkw klebt: Sie sei über Jahre seine Geliebte gewesen, für die er seine Familie verließ. Am Ende, als klar wird, dass der Lkw den Bus abschleppt, wünscht der Fahrer künftigen Mandanten des plietschen jungen Mannes ironisch Gottes Hilfe. Jahre später ist der Student Anwalt, da kommt eines Tages Fahrer Fahri in seine Kanzlei, ohne ihn zu erkennen. Der Anwalt übernimmt es unentgeltlich, seinen Sohn aus der Haft zu holen. Erst beim Dankbesuch erinnert er den alten Vater an die Geschichte von damals, der nun sagt: „Ich hab doch damals schon gesagt, du wirst einmal ein großer Mann!“ Ein schönes Beispiel für den verschmitzten Humor des Autors, mit dem er auch eigene Schwächen eingestehen kann.

Empathisch erzählt Demirtaş von Menschen, die vom Schicksal – oder sagen wir besser: von der Politik, von menschengemachten Umständen – betrogen sind: Die 5-jährige Mina aus Syrien wird auf der Flucht mit der Mutter zur ewigen „Mittelmeerjungfrau“, als das Boot kentert. Seher-cezaevi Zwei 16-jährige illegale Bauarbeiter warten nach 15 Monaten Knochenjob auf ihren Lohn, ahnen nicht, dass sie darum betrogen werden könnten; der eine träumt von seiner heimlichen Liebe im Dorf, der er, kaum alphabetisiert, nie beantwortete Briefe schreiben ließ, ohne jeden Schimmer davon, dass auf den Umschlägen Anschrift und Absender fehlten. Bei der Abfahrt fällt der Blick der Arbeiter auf den hochgezogenen Bau: Edirne F-Typ-Hochsicherheitsvollzugsanstalt, also das Gefängnis, in dem der Autor einsitzt.

In einem psychologischen Versuch mit Anklängen an die vornehmlich in der Unterschicht beliebte Arabesk-Musik testet ein junger Mann in Tagträumen verschiedene Lebensentwürfe mit der Angebeteten aus: der Eifersüchtige, der Revolutionär, der kiffende Bohemien. Seher-genc Dass er psychisch labil ist und nie wieder Fuß fassen konnte, seit der Bruder seiner ersten Liebe ihn anschoss und sie umbrachte, erfährt die Leserin erst zum Schluss.

Als Politiker will Demirtaş eine kurdische Stimme für alle zu sein, diesem Anspruch wird auch der Autor Demirtaş gerecht. Herkunft, ethnische oder religiöse Zugehörigkeit der Protagonisten sind kaum angedeutet und spielen keine Rolle.

Direkten Bezug zur Haft haben nur zwei Texte: Im Eingangstext „Der Mann in uns“ beobachtet der Autor im engen Hof seiner Zelle Ameisen, Spinnen und Sperlinge. Über Wochen verfolgt er ein Spatzenpaar bei Nestbau und Verteidigung der Brut: Ein couragiertes Weibchen muss sich mit einem müßigen Macho-Männchen mit großer Klappe herumschlagen. Im Dialog mit den Spatzen entsteht eine humorvolle Fabel über millionenfach beobachtete Beziehungsrealität. Seher-görülmüstür In „Brief an die Korrespondenz-Kontrollkommission der Haftanstalt“ geht es in humorvoller Empörung über den Job des Briefzensors nur vordergründig um Zensur und Kontrolle, vielmehr erzählt der Autor eine, wie er sagt, authentische Anekdote aus der Grundschulzeit mit Anspielungen auf heutige Politik. Den Rahmen bildet die Schilderung der ärmlichen Herkunftsverhältnisse, die der Junge aber kreativ ins Positive zu wenden versteht. Ein Beispiel für Demirtaşs sprichwörtlichen Optimismus.

Einblick in sein frühes soziales Umfeld gibt er auch in „Rechnungen mit Mutter“, einer Sammlung kleiner ebenfalls authentischer Anekdoten aus der Kindheit, als die beiden Söhne die Mutter bei ihren Versuchen, die Familienkasse aufzubessern, ungewollt austricksten, so holen sie wie aufgetragen vom Seher-annemle-hesaplasmalarGroßhändler günstig Zucker, geben aber das eingesparte Geld für den Transport aus, oder verspeisen selbst den Joghurt, den sie zu den Großeltern bringen sollten.

Ein Plädoyer für Entschleunigung und Rückbesinnung auf Werte wie Familienzusammenhalt, Freundschaft, Sinn statt Gewinn bietet die Geschichte von Nermin, die früh nach Istanbul geht, erfolgreiche Architektin wird, mit ihrem Partner ein hektisches Leben im Karriererausch. Bis ein Buch über die Einsamkeit des modernen Stadtmenschen die beiden innehalten und den allein lebenden Vater besuchen lässt, doch danach hat sie im Nu der Alltag wieder eingeholt. Die Leserin ahnt bereits, wer Autor des sinnhaften Romans ist. Die beiden Architekten erfahren es erst, als es zu spät ist, sie bereuen ihr entfremdetes Leben und versprechen einander, zu retten, was zu retten ist.

Der letzte Text, „Das Ende wird fantastisch“, ist eine Utopie und basiert auf einer wahren Geschichte im Zuge der Niederschlagung der kurdischen Selbstverwaltungszonen  2015/16. Baby Bêkes kam an dem Tag zur Welt, als sein Vater mit vielen anderen in einem Keller in Cizre bei den Zerstörungsoperationen des Militärs bei lebendigem Leib verbrannt wurde. An Bêkes’ erstem Geburtstag schrieb die Mutter in seinem Namen einen offenen Brief: „… Wenn ich groß bin, werde ich deinen Namen nicht vergessen, sondern dich weiterleben lassen und mich meines Vaters und meines Onkels würdig erweisen…“ Nun, in Demirtaş Text, soll Bêkes, inzwischen 28 und erfolgreicher Arzt, als Delegierter der kommunalen Selbstverwaltung das Modell inSeher-sonu-muhtesem-olacak Harvard vorstellen. Nicht zufällig beschließt dieser Text mit der Hoffnung auf eine Fortsetzung des erfolgreichen Modells in der Zukunft das Buch.

Längst hätte er gern geschrieben, am liebsten einen Roman, sagt Demirtaş im Interview, habe das aber weder mit den Anforderungen an ihn als Politiker noch mit seiner Zeit vereinbaren können. Er sei sich bewusst, dass das Interesse am Buch vor allem seiner politischen Identität und Bekanntheit geschuldet sei, denke aber, es sei nicht verkehrt, den Vorteil zu nutzen, um auch auf diesem Gebiet zum Kampf beizutragen. „In unserer Gesellschaft ist das Interesse an Büchern und Lesen gering. Schriftsteller erhalten nicht die verdiente Wertschätzung.“ Vielleicht könne er auf diese Weise das Lesen fördern. Er sei ein Vorbild für Jüngere und nehme diese Mission ernst. Mit den Bildern, die er in der Haft malte, und den Erzählungen habe er daran erinnern wollen, „Kunst als den wichtigsten Teil des Kampfes, des Lebens und der uns ausmachenden Werte zu begreifen.“

Selahattin Demirtaş: Seher. Dipnot Yayınları: Ankara 2017.

*Alle Illustrationen aus dem Buch von Bahar Demirtaş und Siya Gürbüz © Dipnot Yay.

Gefällt mir:

Gefällt mir Wird geladen...

Veröffentlicht in Bücher, türkische Literatur | Verschlagwortet mit Frauen, Friedensinitiative, kurdische Literatur |

  • Kategorien

    • Allgemein (28)
    • Übersetzerwerkstatt (3)
    • Literatur (95)
      • afrikanische Literatur (2)
      • chinesische Literatur (13)
      • indische Literatur (9)
      • interkulturelle Literatur (14)
      • Regionalliteratur (2)
      • Reiseliteratur (1)
      • türkische Literatur (54)
    • Reviews (93)
      • Bücher (65)
      • Film (1)
      • Theater (3)
      • Veranstaltungen (26)
  • Aktuelle Beiträge

    • Eine Geschichte des Verlierens
    • Blick auf den Schreibtisch
    • Ihre Stimmen hört man nicht
    • Wer die Götter herausfordert …
    • Zurück ins Dorf
    • Mehr als „Sand und Meer“ – türkische Literatur ins Ausland vermitteln
    • Ein Schritt vor und zwei zurück
  • afrikanische Literatur Ankara Armenier Batman Berlin binooki Blogger schenken Lesefreude chinesische Literatur Corona Cover E-Books Erinnerungskultur Essen Film Frauen Friedensinitiative Gender Gezi-Park Griechenland Hamburg Indien indische Literatur interkulturelle Literatur Interreligiöser Dialog Istanbul Jugendbuch Kein Frühling für Bahar Kinderbuch Klimakatastrophe Krimi kulturelle Brücken kurdische Literatur lesen Literaturagentur Migration Multikulturalismus Pontos-Griechen Regionalliteratur Reiseliteratur Schreiben Syrien Türkische Bibliothek türkische Kunst türkische Literatur türkisches Theater welttag des buches Zitat übersetzen
  • Blogroll

    • HerStory
    • Literatürk
    • Literaturfelder
    • Litprom
    • Qantara.de
    • Türkische Bibliothek
  • Blogstatistik

    • 36.641 hits
  • Meta

    • Registrieren
    • Anmelden
    • Feed der Einträge
    • Kommentare-Feed
    • WordPress.com
  • Ich mach was mit Büchern

Bloggen auf WordPress.com.

WPThemes.


  • Abonnieren Abonniert
    • literarisches Strandgut & mehr
    • Schließe dich 52 Followern an
    • Du hast bereits ein WordPress.com-Konto? Melde dich jetzt an.
    • literarisches Strandgut & mehr
    • Anpassen
    • Abonnieren Abonniert
    • Registrieren
    • Anmelden
    • Kurzlink kopieren
    • Melde diesen Inhalt
    • Beitrag im Reader lesen
    • Abonnements verwalten
    • Diese Leiste einklappen
%d Bloggern gefällt das: