Mary schweigt in der Folter, sie schweigt, als sie wegen ihres Schweigens auf eine Gefängnisinsel verbannt und zweimal über Wochen allein in einer Bucht, der Müll- und Begräbnisbucht, ausgesetzt wird. Mit jedem Wort, das weiß sie, kann sie sich nur gefährden. Und Dimos ebenso, den Linksrevolutionär, der den illegalen Sender an der Universität organisiert. Vor allem aber, der Sonne, die sie in sich heranwachsen weiß. Dem kleinen Wesen einen Namen zu geben, traut sie sich vorerst nicht. Nicht Türkei 2016/17, sondern ein ungenannt bleibendes Land 1973/74, das sich leicht als Griechenland identifizieren lässt, bildet den Hintergrund für Aris Fioretos’ jüngsten Roman Mary (Hanser, 2016). Der schwedische Autor mit griechischem Vater, dessen Migrationserfahrungen er im vorangegangenen Semi-Roman Die halbe Sonne nachzeichnete, arbeitet als Angehöriger der Nachfahrengeneration nun die Studentenrevolten November 1973, die den Anfang vom Ende der letzten griechischen Militärdiktatur markierten, zunächst aber zur Verschärfung der Lage beitrugen, aus ungewöhnlicher Perspektive auf.
Mary stammt aus einer rechtskonservativen Familie, der ältere Bruder Theo hatte schon rebelliert und sich nach Amerika abgesetzt, als sie noch zu jung war, um seine Gründe zu verstehen. Als der Kontakt abbricht, wird sein fernes Alaska ihr zur Metapher für Freiheit und Selbstbestimmtheit, zum Weit-fort-Land. Auch sie bricht mit den Eltern. Sie studiert Architektur, als sie Dimos kennenlernt, es fühlt sich richtig an, auch wenn vieles noch ungeklärt ist. Am Tag, als sie erfährt, dass ihre übermütige „Unachtsamkeit“ vor wenigen Wochen nicht folgenlos blieb, geht sie, die sympathisiert, ohne Aktivistin zu sein, abends zur besetzten Universität, um ihm, der seit Tagen vor lauter revolutionärer Umtriebe kaum nach Hause kommt, die frohe Botschaft zu überbringen. Doch just heute stürmt das Militär die Universität, im Chaos gerät sie in eine Falle und wird als Verdächtige verschleppt. Keine Festnahme, keine Anklage, kein Prozess, kein Urteil. Schwiege sie nicht und zeigte sich gar kooperationsbereit, könnte sie die folgende Haft-Odyssee wohl abkürzen, wie manch andere es tun, doch Mary schweigt.
Parallelen zu aktuellen Entwicklungen in anderen Ländern drängen sich auf. „Könnte überall sein, diese Geschichte. Könnte von einer Türkin handeln, die Asli heißt, zum Beispiel. Oder in Syrien spielen“, meinte etwa Elmar Krekeler (Welt).
Im aktuellen Projekt „Freiheit und Verantwortung. 95 Thesen heute“ stellte Aris Fioretos fünf Mikrothesen für (seine) Literatur auf und fasste in einen präzisen Satz, was er unter Verantwortung in der Literatur versteht: „Freiheit ist nur durch Ordnung zu erreichen.“ Begrenzung führe in der Literatur zu einer Erweiterung des Sagbaren. Sein Credo: „Ziele auf das Herz.“ Fioretos, der Literaturwissenschaft in Deutschland und den USA lehrte, erzählt nie allein um des Erzählens willen. Mary lässt er sagen:
„Mein Leben ist Kaffeesatz und selige Sommersprossen gewesen, es ist tragende Wände, gewaltige Himmel, unerwartete Freundlichkeit gewesen. Und eine große Verlegenheit bei dem Gedanken, enden zu müssen. Halten wir durch, weil wir glauben, dass es woanders besser, schöner, gerechter sein wird? Alle sehnen sich danach und sprechen darüber. Ich weiß nicht, ob ich mich weiter sehnen will, ich will dort sein können, wo ich bin.“
Kleine Inseln der Geborgenheit in der Tortur von Haft, Folter, Männerwillkür, hier in Polizei- und Militärgewalt manifestiert, bilden vorübergehende Gemeinschaften mit mitgefangenen Frauen. Von Anfang an ist es die Sonne in ihr, der Keim, den sie in sich wachsen spürt, der ihr unbedingten (Über-)Lebenswillen gibt und der sie schweigen lässt. Auf seine ersten Bewegungen wartet sie so sehnsuchtsvoll, wie sie sie fürchtet, denn die Schwangerschaft würde einen Teil dessen, was sie verschweigt, preisgeben und sie angreifbar machen. Tatsächlich stellt der Kommandant der Gefängnisinsel sie, kaum dass die Schwangerschaft offensichtlich ist, vor die Alternative: Kind oder Vater! Sie hört aus der Drohung vor allem eines heraus: Dimos ist frei! Damit gibt es für sie nur eine Entscheidung. Als die Sonne stirbt, die ihr das Grau ringsum in Lebensfarben tauchte, bricht sie die unmittelbar folgende erneute Isolationshaft mit heimlichem Schreiben. Auf sorgsam aus dem Müll geklaubten Papierfetzen notiert sie, was ihr widerfuhr, schreibt sich ihrem „Alaska“ näher:
„In ein paar Minuten werde ich nicht mehr die Person sein, die Dimos fragte, ob er sie Mary nennen dürfe. Wenn der letzte Zettel mit Worten gefüllt ist, gibt es sie nicht mehr. Ich bin nur Jemand.“
Fioretos, nein: Mary gliedert ihre Aufzeichnungen im Hauptteil „Die Granatapfelkerne“ in Fragen: Wer, Warum, Wo, Was, Wie, Wann … (wie sich nur aus dem Inhaltsverzeichnis ersehen lässt), Dimos hatte sie angeregt, mehr Fragen zu stellen. Ihre Fragen, ihre Antworten auf alle Fragen an ihr bisheriges Leben wie an die Monate der Verschleppung notiert sie nun in kurzen Sequenzen, gleichsam wie Kerne eines Granatapfels. „Wenn du diesen Apfel teilst, findest du nicht einen Kern, der wichtiger ist als ein anderer. Alles ist klar geordnet, aber der Mittelpunkt ist überall“, hatte Dimos gesagt, für den die Welt in Ordnung und Unordnung geteilt ist, wo Ordnung herrsche, sei Zusammenhang und damit auch Sinn und Ziel.
Ungewöhnlich genug, dass ein männlicher Autor eine Frau als Ich-Erzählerin in den Mittelpunkt seines Buches stellt. Bei der oft sachlich nüchtern wirkenden Schilderung noch der harschesten Brutalität schaute ich unwillkürlich nach, ob ein Mann oder eine Frau übersetzt hatte. Paul Berf, der alles bisher von Fioretos’ (der seinerseits u.a. vom Deutschen ins Schwedische übersetzt) auf Deutsch Vorliegende übersetzt hat, gelang es einmal mehr, die so unprätentiöse wie eindringliche Sprache des Autors adäquat zu übertragen. Ich musste an einen griechischen Übersetzerkollegen denken, den eine weibliche Kollegin bat, ihr Burhan Sönmez’ Buch Istanbul Istanbul abzunehmen, weil sie die grausamen Folterszenen schon beim Lesen nicht ertrug, ihr grauste vor dem Übersetzen.
Gerade der fast kühle, nachgerade distanzierte Blick macht betroffen. An einer einzigen Stelle bricht Mary ab, sonst schildert sie beinah emotionslos, was ihr angetan wird. Ihre Überlebensstrategie lautet: aus sich heraustreten, sich von außen betrachten, aber auch annehmen, was ihr widerfährt. Fioretos’ Mary lässt sich als Stellvertreterin für die Tausenden Opfer der griechischen Militärdiktatur lesen, aber auch als Metapher für Repressionen, Männergewalt, zügellose Brutalität, gegen die passiver Widerstand, Schweigen und Solidarität im Stillen und Kleinen als einzig probates Mittel erscheinen.
Mary wurde im Januar mit dem Jeanette-Schocken-Preis 2017 ausgezeichnet, der „höchst aktuelle und politische Roman zeigt die bedrohliche Allgegenwärtigkeit von diktatorischer Willkür“ und sei ein leidenschaftlicher Appell für moralische Werte, urteilte die Jury (RadioBremen).
Griechenland 1973/74 ist nicht die Türkei 2016/17. Es droht keine Militärjunta in der Türkei heute, doch wenn ich nachlese, dass Papadopoulos 1972 die Ämter des Premier-, Verteidigungs- und Außenministers auf sich vereinigte, drängt sich der Gedanke an das türkische Referendum zur Umwandlung der parlamentarischen Demokratie in ein autokratisches Ein-Mann-System geradezu auf. In der Türkei wurde keine Universität gestürmt, doch Hunderte als Terrorunterstützer gebrandmarkte AkademikerInnen und Hunderttausende aus dem öffentlichen Dienst wurden entlassen und bei Protesten brutal drangsaliert, Zehntausende wurden verhaftet. Amnesty International und der Menschenrechtsverein IHD berichten von Folter und Misshandlungen in Polizeigewahrsam, der als quasi rechtsfreier Raum im Ausnahmezustand unzumutbar ausgedehnt wurde. Allzu nahe scheint die heutige Türkei dem Griechenland von damals zu sein.
Als Hintergrund für Marys Geschichte diente Fioretos die griechische Gefängnisinsel Jaros, deren höllische Topographie er bereits in Der letzte Grieche schilderte, sie war auf keiner Karte verzeichnet (mehr zu den Hintergründen). Meines Wissens gibt es keinen vergleichbaren Ort in der Türkei, es gibt aber immer noch und immer wieder Menschen, die festgenommen oder verschleppt werden und „verschwinden“. Vielleicht werden erst die Nachfahren der heute Unterdrückten und Geächteten Nachricht geben können von nicht auf Karten verzeichneten Orten des Grauens. Aris Fioretos’ Vater blieb nach der Machtübernahme der Militärs lange im schwedischen Exil, sein Sohn arbeitet die griechischen Ereignisse jetzt, gut 40 Jahre später, literarisch auf. Manchmal hilft es Opfern zu wissen, dass sie nicht allein von Gewalt, Willkür, Tyrannei betroffen sind, immer schockiert es zu sehen, dass Geschichte sich wiederholt.
Aris Fioretos: Mary. Aus dem Schwedischen von Paul Berf. Carl Hanser Verlag: Hamburg 2016.