Wenn Prüfungen bevorstehen im türkischen Schulsystem, Prüfungen, die nicht nur über die weitere Bildungskarriere, sondern schier über den weiteren Lebenslauf entscheiden, setzt das Leben für Monate aus. Dann ist nur noch Lernen angesagt, mit Privatlehrern und Lerninstituten, das ist Ausnahmezustand für die ganze Familie. Und wird für viele Jugendliche zum Horror. Die armenisch-türkische Autorin Karin Karakaşlı bringt in ihrem zweiten Jugendroman Dört Kozalak (Vier Tannenzapfen, 2014), jüngst zum Jugendbuch des Jahres 2014 gewählt, zwei Mädchen, zwei Jungen und zwei Lehrer zusammen, um im Prüfungsmarathon zu bestehen. Der Autorin und Lehrer Osman liegt dabei besonders am Herzen, dass die vier Jugendlichen, die einen Teil des Istanbuler multikulturellen Mosaiks repräsentieren, einen respekt- und liebevollen Umgang miteinander entwickeln.
Osman stellt das handverlesene, von ihm “die Maulwurfbande” genannte Quartett für dieses Jahr zusammen: der scheue musische Emre, ein Einzelkind, das die ehrgeizigen Eltern nur auf Erfolg trimmen, ohne sich je Zeit zu nehmen, ihm zuzuhören; die sprachverliebte Mari aus einer armenischen Familie, die aus Angst vor Häme fürchtet, ihren Glauben zu offenbaren; die empathische Kumru mit dem schwerkranken Vater, die davon träumt, Ärztin zu werden; und Şerzan, der begabte Sohn der kurdischen Hausmeisterfamilie, deren Mutter berühmt für ihr Gebäck ist. Gleich am ersten Tag drückt Lehrer Osman seinen erstaunten Schülern je einen Tannenzapfen in die Hand und gibt ihnen den Auftrag, zu Hause eine „Glücksecke“ einzurichten: an einem festen Platz sollen sie Dinge zusammentragen, die ihnen guttun, die sie glücklich machen. „Es braucht seine Zeit, bis man weiß, was einem guttut. Ihr werdet also immer wieder verändern, was ihr in dieser Ecke unterbringt. Unverändert wird nur bleiben, dass euch diese Ecke guttut.“ In seinem Unterricht lernen die vier gleich zu Beginn, dass das eigentliche Ziel gar nicht die Prüfung sei, sondern zum einen, die Angst davor zu verlieren, und zum anderen zu wissen, was man selbst will.
Getragen ist die Erzählung durch liebevoll entworfene Familienverhältnisse und Geschwisterbeziehungen und durch die sensible Schilderung der sich allmählich entwickelnden Freundschaft. Immer wieder verweist die Autorin auch auf kritische Punkte im türkischen Schulsystem, wie die einseitig türkisch-nationalistische Sicht in den Schulbüchern. Lehrer Osman ermahnt seine Zöglinge: „Die Fragen sind nicht immer absolut richtig. Lasst uns über die Fragen mehr als über die Antworten reden!“ Nicht nur, wer das türkische Schulsystem kennt, ahnt, wie immens wichtig die Erziehung zu kritischem Denken, auch kritischem Lesen ist, die hier angedeutet wird.
Die kleine Gruppe unternimmt auf Bitten der Jugendlichen eine Exkursion, um die Lebenslehren, die sie von ihren Lehrern erhalten, an der Realität zu überprüfen. Die führt sie durch den lebendigen Basar von Kadıköy, dem verhältnismäßig ruhigen Viertel auf der asiatischen Seite Istanbuls, und durchs quirlige Karaköy zum geschichtsträchtigen Galataturm, den alle vier zum ersten Mal zu Gesicht bekommen.
Mehrfach verlagert sich der Schwerpunkt des Buches vom gemeinsamen Unterricht hin zu den Menschen: Als der Zustand von Kumrus Vater sich verschlechtert und er schließlich stirbt, ist Kumru dabei, aufzustecken, sie igelt sich ein und ist eine Weile nicht mehr erreichbar, doch die Freunde bahnen sich mit Geduld und Zuneigung erneut einen Weg zu ihrem Herzen und holen sie ins Leben zurück. Auch die Lehrer Osman und Umut, wobei Umut nahezu unsichtbar im Hintergrund bleibt, erkennen, dass sie von den Schülern mindestens so viel lernen können, wie diese von ihnen. „Man lernt leider am meisten, wenn wir leiden“, muss Osman den Kids sagen, und spürt, dass nur Liebe imstande ist, Kummer und Leid zu überwinden.
Dabei knabbert Osman selbst an einer gescheiterten Beziehung: er liebt noch immer seine Inge, mit der er in Berlin zusammenlebte, über die Trennung kommt er nicht hinweg, vermag aber ebenso wenig, erneut einen Schritt auf Inge zuzugehen. „Jeder hat im Leben seine eigene Prüfung zu bestehen“, gibt Freund Umut ihm zu bedenken. Doch dann nehmen die Schüler das bei Osman Gelernte beim Wort und werden aktiv, um auch ihren Lehrer glücklich zu sehen…
Emre gelingt unterdessen nicht nur, den Eltern gegenüber den eigenen Standpunkt zu vertreten, sondern auch die Versöhnung mit einem geliebten Freund, den die Eltern für unguten Umgang hielten. Von diesem lässt er sich gern Lebensweisheiten von John Lennon beibringen: „Ein Traum, den du allein träumst, ist nur ein Traum. Ein Traum, den du mit anderen träumst, wird Wirklichkeit.“ Und auf die Frage, was man werden wolle, könne es nur die eine Antwort geben: „Glücklich!“
„Ihr habt meiner Tochter die Schüchternheit und das Schmollen genommen, jetzt sagt sie frei ihre Meinung, voller Selbstvertrauen und Hoffnung. Was wollen wir mehr?“, freut sich Maris Mutter am Ende. Und Lehrer Osman ist glücklich, weil er sieht, dass alle die Prüfung bestehen werden, denn sie haben das Schwierigste schon geschafft: sie haben keine Angst mehr! Das ist durchaus als Metapher und Plädoyer für die Erziehung der jungen Generation(en) nicht nur in der Türkei zu Menschen ohne Furcht aber mit Rückgrat und Persönlichkeit zu verstehen, Menschen, wie Autorin Karakaşlı sie selbst repräsentiert, wie ein Land mit einer gespaltenen Gesellschaft, die wieder zunehmend in Unmündigkeit und Furcht gehalten wird, sie heute dringender braucht denn je.
An einer Stelle heißt es über die Rolle der Literatur im Leben eines Menschen: „Es gibt Bücher, die beeindrucken uns wie die Begegnung mit einem Menschen. Das ist Literatur: Begegnung und Wachsen.“ Dört Kozalak ist sicher dazu geeignet, seinen jungen LeserInnen nahezubringen, was Lehrer Osman die „vier Tannenzapfen“ vor allem lehrt: die Bedeutung von Freundschaft, gegenseitigem Respekt und Aufrichtigkeit. Und eine „Glücksecke“, ein Eckchen mit Dingen, die uns guttun und aufrichten, bei uns zu Hause einzurichten, erscheint mir eine ganz praktische Idee, die es auszuprobieren gilt, nicht nur für Jugendliche. Warum, der Jahreszeit entsprechend, nicht heute noch mit einem Tannenzapfen beginnen?
Karin Karakaşlı: Dört Kozalak (Vier Tannenzapfen). Günışığı Kitaplığı, Jugendbuch-Reihe Köprü Kitaplar (Brückenbücher, herausgegeben von Semih Gümüş), Istanbul 2014. (bisher nur auf Türkisch)
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