„Schreibt neue Texte anstelle derer, die ihr unzulänglich findet! Organisiert neue Aktionen anstelle derer, deren Form euch nicht gefällt!“ Nicht Opfer sein, nicht darauf warten, dass andere handeln, sondern selbst aktiv werden, offen und wahrhaftig sein im Namen der Menschlichkeit – das besticht an Salyangoz (Die Schnecke), dem ersten Buch (2014) von Hayko Bağdat, in dem der armenisch-griechische Publizist uns durch sein Leben und damit über die Landkarte der Diskriminierung und Selbstbehauptung der letzten 40 Jahre in der Türkei führt. Mit Wortmeldungen in Radio, TV und Kolumnen, erinnert sei nur an seinen Aufschrei „Utanç duyuyorum“ (25.07.15, „Ich empfinde Scham!“) nach dem Anschlag von Suruç, wo er das stereotype menschenverachtende Verhalten breiter Kreise anprangerte und einmal mehr die gängigen Community-Grenzen in der türkischen Gesellschaft zu sprengen versuchte, ist Bağdat zu einer Art Gewissen der Nation geworden.
In Salyangoz erzählt der 1976 geborene Istanbuler in sechzig kurzen Kapiteln, darunter einige bereits veröffentlichte Zeitungskolumnen, vom Aufwachsen als Sohn eines armenischen Vaters und einer griechischen Mutter im Viertel Kurtuluş und auf der Insel Kınalıada, beide traditionell von christlichen Minderheiten geprägt. Er beginnt mit Schlüsselerlebnissen, die dem unbedarften kleinen Jungen zu denken geben: Warum sagt ein armenisches Mädchen im Schulbus dem fragenden türkischen Soldaten, es heiße Ayşe, obwohl sie doch ganz anders heißt, und alle schweigen wissend dazu? Woher kennt das kleine Mädchen die Angst, die er auch bei den nächsten Verwandten erlebt? Bald merkt er: „Wir wuchsen mit dem geheimen Übereinkommen auf, nur zu uns und unsereiner Verbindungen zu unterhalten, und mit dem Gefühl, unsere kleine Glasglocke hüten zu müssen.“ (19) „Schweigen lernen“ ist das erste Kapitel überschrieben – und es erzählt davon, wie Kinder in Familie und Community lernen, „den Anderen“ gegenüber ihre Identität zu verschweigen. Ein Kapitel mit dem Titel „Sprechen lernen“ braucht es nicht, denn das ganze Buch erzählt genau diese Geschichte: Wie lernte der aufgeweckte, staunende Junge Hayko im Laufe der Jahre zu sprechen, sich auszudrücken und einzutreten für seine Sache, für die Sache der Minderheiten, mehr als das: für die Sache der Menschlichkeit, dafür, aus dem „Wir hier – da die Anderen“ entschlossen ein großes WIR zu machen, für unser aller Sache also?
Zunächst bietet der kleine Kreis unter der Glasglocke Sicherheit, bald bekommt das eingetrichterte Bild von „Wir sind die Guten – die Anderen sind die Bösen“ Risse, bald auch behauptet er sich auf der Straße (und wird dadurch zum Vermittler zwischen Communitys und Milieus, denn das Privileg, sich in mehreren und zwischen den Welten zu bewegen, hat er anderen Kindern voraus). Schwierig wird es, wenn „die Mehrheit” bei verlorenen Fußballspielen etwa oder beim Beschimpfen Tauben tötender Roma-Kinder die vermeintlich „bösen Anderen“ mit der gängigen Beleidigung für Nicht-Muslime als „gavur“ (gottlos, ungläubig) verunglimpft. Wer ist dann noch „wir“?
Auf Kınalıada erlebt der Junge eine Gemeinschaft, wo Ethnie, Religion, Schicht keine Rolle spielen, hier beginnt er, seine Clique, seinen Clan (kabile) zusammenzustellen, und an so manchem knorrigen Original auf der Insel erfährt er die Vielfalt der Menschen und dass alle gleich wertvoll sind. Immer wieder aber kommt es auch vor, dass ein Freund nicht glauben mag, dass er Armenier ist oder sagt: „Du bist so ein guter Mensch, wärest du doch Muslim …“ Durch enge Freundschaften kennt er sich gut auch in der griechischen Orthodoxie und im Islam aus, weiß, dass das Missionierungsstreben beider einander in nichts nachsteht. Eine Botschaft seines Buches lautet: „Armenier sind keine guten Menschen, keine Romanhelden oder so“, sie sind ganz normale Menschen, damit demontiert er explizit auch Tendenzen positiver Diskriminierung. In seinen ersten Texten thematisiert er zunächst sein Missbehagen an der eigenen Community. In den Szenen, Anekdoten, Erinnerungen und Fragen im persönlichen ersten Teil des Buches geht es vor allem um die zentrale Frage: Wer ist „wir“, wer sind „die Anderen“, wer hat die Deutungshoheit darüber? Denn leider ist es ja – und das nicht nur zu diesem Thema und nicht nur in der Türkei – nicht so einfach zu sagen: Na, wir selbst natürlich!
Als Wehrdienstleistender, dem ernsthaft gedroht wird: „Ein türkischer Soldat ist beschnitten!“, meldet er sich mit seinen drei Takten Klavier als Musikant und wird ausgerechnet nach Dersim/Tunceli geschickt, wo unmittelbar zuvor ein Selbstmordanschlag die Mitglieder der Vorgängerkapelle getötet hatte. In den Monaten hier sieht er sich erstmals unmittelbar mit der grausamen Realität des Bürgerkriegs konfrontiert und gibt (als einer von 42 am Krieg beteiligten Soldaten) der Journalistin Nadire Mater Auskunft für ihr damals Aufsehen erregendes Buch Mehmed’in Kitabı (dt.: Mehmets Buch 2001), auch er fühlt sich vom Kriegstrauma betroffen. Sein Bericht für Mater regt ihn an, sich auch weiterhin öffentlich zu äußern.
Der Journalist Hrant Dink hatte mit seiner 1996 gegründeten Wochenschrift Agos gezeigt, dass freie Rede möglich ist. „Wenn Hrant Abi sprach, fühlten auch wir uns, als würden wir reden. Auch wir jungen Leute wollten handeln …“ Bald findet Bağdat sich mitten in der Publizistik wieder und redet. Zu seinem Erstaunen ist sogar die streng auf Schweigen bedachte Mutter bereit, im Radio Auskunft zu geben: über das ihr Leben lang beschwiegene Pogrom vom 6./7. September 1955, wie sie sich als sehr junges Mädchen zu Nachbarn flüchtet, die ihr am nächsten Tag sagen: „Wir können dich auch nicht mehr schützen.“ Dann ist da aber Ayşe die Verrückte, die burschikose Nachbarstochter, die, als der Mob die Krämerstochter sucht, oben aus dem Fenster ruft: „Ich bin die Tochter des Krämers, was wollt ihr Schurken?“, woraufhin die Menge sich verläuft. „Wenn wir noch Hoffnung haben“, meint Bağdat, „dann haben wir sie fast ganz der verrückten Ayşe zu verdanken.“ Und: „Das ist die Geschichte meiner Familie, aber es könnte die Geschichte von vielen von uns sein. Jeder verbirgt etwas aus Furcht …“
Die zweite Hälfte des Lebens
Die Zäsur stellt der Mordanschlag auf Hrant Dink dar, was danach kommt, ist für Bağdat „die zweite Hälfte meines Lebens“, nun erst versteht er die latente Angst derer, die die früheren Pogrome und den Genozid erlebten, erst richtig. Nun ist er gewissermaßen „Voll-Armenier“, nun geht es auch in Salyangoz nur noch um den Umgang mit Armeniern und dem Völkermord von 1915. Im Gegensatz zum persönlich gehaltenen ersten Teil des Buches im lockeren, humorvollen Plauderton ist der zweite Teil politischer, sehr viel schärfer und nah an der aktuellen türkischen Agenda.
Das Entsetzen, das Nichtglauben-, Nichtfassen-Können und –Wollen der Ermordung von Hrant Dink und die ersten Tage danach, wo alles plötzlich in Frage gestellt ist und Bağdat das Gefühl hat, keine Worte mehr zu haben, spiegelt sich in den nächsten Kapiteln auch sprachlich wieder. In seinen im Rückblick geschriebenen Texten schließt er die zahlreichen Toten der letzten Jahre, die Toten der Gezi-Proteste, in sein stumm schreiendes Entsetzen mit ein und konterkariert die Parole #ölümsüzdür (#istunsterblich):
„Unsere Kinder sind sterblich. Eben deshalb sind sie ja so wertvoll. Eben deshalb achten wir auf sie wie auf unseren Augapfel. Wir sind ja voller Zorn, weil sie sie getötet haben. Sie lassen uns mit der schlimmsten Tatsache allein. Sie haben unsere Kinder getötet. Und es tut ihnen nicht einmal leid …“ (127)
Wir sind alle Armenier
Seit dem Trauermarsch und den jährlichen Gedenkfeiern für Hrant Dink ist der Slogan „Wir sind alle Armenier“ auch hierzulande bekannt. Bağdat fragt, was hinter dieser Solidaritätsbekundung steckt, die er für eine der stärksten Stimmen im Land überhaupt hält, und meint, die Menschen sag(t)en damit: „Wir streuen das Ziel. Ihr seid wenige, es ist für sie leicht, euch einzeln zu jagen. Ich stelle mich neben dich und tue, als wäre ich du.“ (130)
Die letzten Texte des Buches reflektieren die jüngsten Versuche, das türkisch-armenische Verhältnis zu normalisieren. Ein anständiges Begräbnis für die 1,5 Millionen Opfer des Völkermords gehört dazu, damit ihr unversöhnter Geist endlich Ruhe findet, sonst bleibe das Land ein Haus, in dem es weiter spukt. Mehr als ein allein von realpolitischem und wirtschaftlichem Kalkül getriebenes Lippenbekenntnis von offizieller Seite ist nötig. „Aufarbeitungs-veranstaltungen“, in denen, „die Loser der Türkei“ immer wieder erzählen, was ihnen angetan wurde, das Publikum interessiert lausche und so tue, als höre es das alles zum ersten Mal, bringen nicht wirklich weiter: „Nach jeder dieser Veranstaltungen gehen die Zuhörer beeindruckt von dannen, die ‚Erzählenden’ aber machen sich noch einmal so erschöpft, mit erneut aufgebrochenem Schmerz und gequält von der eigenen Geschichte auf den Heimweg.“ Auf einer dieser Veranstaltungen wird auch Bağdat, der sich oft als Alibi-Armenier eingeladen sieht, aufgefordert zu erzählen, was ihm passiert sei. Er schweigt kurz und fragt dann: „Freunde, was ist denn eigentlich euch passiert?“ Denn: „Haben nicht alle alles mitangesehen, haben wir nicht alle all das gemeinsam erlebt?“
Was taten denn die Deutschen, die mitansahen, wie die Juden in die Züge verladen wurden? / Was taten sie zum Beispiel, wenn sie wieder zu Hause waren? / Ich stelle eine sehr praktische Frage: Wie lebten sie an jenem Tag weiter? / Aufarbeiten heißt doch nicht, das Opfer das erlittene Unrecht immer wieder erzählen zu lassen! / Aufarbeiten fragt danach, wie du das Unrecht zulassen und dein Leben weiterleben konntest … / Nicht ich muss aufarbeiten, sondern du! (142)
Ist nun im 100. Jahr des Gedenkens an den Völkermord wirklich etwas gewonnen? „Bei uns tut die Zeit so, als verginge sie rasant, doch dann sehen wir, wir sind nicht einen Millimeter vorangekommen.“ (159) Der Diskurs „Wir und die Anderen“ ist noch längst nicht überwunden.
Wenn ich kurz zusammenfassen darf, zuerst war ich Armenier, dann ärgerte es mich, Armenier zu sein, dann versuchte ich zu verstehen, was es heißt, Armenier zu sein, natürlich bin ich oft wohl oder übel Armenier und kann vor allem nicht Türke sein, meine kurze Geschichte besteht aus dem Pendeln zwischen diesen Zuständen und ich bin die Summe von allen.“ (99)
Salyangoz (Die Schnecke) lautet der Titel seines Buches und bezieht sich auf den Spruch „Schnecken im muslimischen Viertel verkaufen“, womit ein sinnloses und moralisch fragwürdiges Unterfangen karikiert wird. Hayko Bağdat erzählt, wie es ist, höchstpersönlich diese „Schnecke“ zu sein. Als „der Andere“ in der Menge, meint er, schaue man von außen, doch in diesem Buch hat er zunächst einmal Zeugnis von innen abgelegt. Seine große Stärke sind eine gute Portion Selbstironie, die Fähigkeit, in allem das Menschliche zu sehen, und kein Blatt vor den Mund zu nehmen.
Am 25. Oktober 2015 stellt Hayko Bağdat sein Buch Salyangoz beim türkisch-deutschen Literaturfestival Literatürk in Essen vor.
Hayko Bağdat: Salyangoz. (Die Schnecke) Istanbul: Inkilâp 2014. (bisher nur auf Türkisch)
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