Ein junges Mädchen auf der Suche nach ihrem Vater, ein Anwalt in den besten Jahren auf der Flucht vor sich selbst – als ihre Wege sich keineswegs zufällig kreuzen, scheint nur einen Augenblick lang die Welt für beide in Ordnung, bis erneut alles aus den Fugen gerät. Sie nutzen aber die Krisen zur Reifung und stellen sich dem stets unberechenbaren Leben mit neuem Elan. Flott bis flapsig, stylish bis spritzig fabuliert der Kölner Autor Alpan Sağsöz in seinem jüngsten, nur als eBook veröffentlichten Roman Als wir Libellen waren (Berlin 2015) drauflos, stellenweise „wie ein Baum bearbeitender Specht nach einem überzuckerten Espresso“, wie es an einer Stelle im Buch heißt. Doch was sich wie Fastfood aus der Creative Writing-Küche anlässt, gewinnt an Tiefe, als die Protagonisten aus dem Alltag katapultiert und auf sich selbst zurückgeworfen werden.
Anwalt Aaron Jassweg bricht im Gerichtssaal zusammen und sieht sich zur Entschleunigung gezwungen. Lange fremdelt er mit sich selbst – „Der Riss war allem schon immanent“ –, befragt das Verhältnis zu den eigenen Eltern, versucht es mit leidenschaftlichen, aber doch unverbindlichen Beziehungen, bevor er zu sich zurückfindet. Eine nicht unwesentliche Rolle dabei spielt die junge Olivia, die aktiv auf ihn zugeht und ihn gleich mehrfach überrascht.
Olivia weiß „nach dem Abitur nur, was sie nicht will“. Nach dem Tod der Mutter und der Erkenntnis, dass ihr Vater gar nicht tot ist, wie ihr ein Leben lang weisgemacht worden war, hat sie immer wieder das Gefühl, „auf irrwitzig dünnem Eis“ zu tanzen, wiederholt bricht sie ein, fordert das Schicksal mutwillig heraus. Auch sie, die Ballerina, muss zu ihrem Lebenselixier, dem Tanzen, erst wieder hinfinden. Beide suchen in unsicheren Zeiten nach Halt und Sicherheit bei gleichzeitiger Wahrung absoluter persönlicher Freiheit und erkennen, dass Blut keineswegs dicker sein muss als Wasser. „Innere Freiheit“ nennt der Autor das und symbolisiert es mit der Farbe Gelb, die wie ein – in diesem Falle – gelber Faden das Buch durchzieht. Die Sonnenfarbe bedeutet ihm Freude, Vitalität, Entfaltung, vor allem aber Freiheit.
Sağsöz bezeichnet Als wir Libellen waren als Vater-Tochter-Geschichte. Vor allem aber scheint es mir ein Buch über Beziehungen und Vertrauen, über Verantwortung für sich und seine Nächsten, die eher selten Familie sind, über den Umgang mit Einsamkeit und die Bedeutung von Herkunft und Identität zu sein. So predigt Olivias Stiefvater Karlo, eine Art Basis-Theologe, schon mal im Grenzbereich christlicher Nächstenliebe, provoziert, um aufzurütteln:
„Wer noch nie mit seinen Eltern gebrochen hat, der kann ihnen nicht nahe kommen und sich selbst schon gar nicht. Er kann sie nicht schätzen, es wird im Laufe der Jahre eine Zombie-Liebe. Eine brave, bürgerliche, wohlerzogene verkrüppelte Liebe.“
In der rasanten Erzählung findet der Autor immer wieder Zeit für tiefere Fragen. „Wenn am Ende alles Nichts war, welche Bedeutung hatten dann das Leben, das Kämpfen, das Lachen und das Weinen sowie die großen Momente des Glücks auf diesem Planeten?“ Interessante spirituelle Ansätze gleiten hin und wieder ins Fantastische ab, so, wenn Olivia wieder einmal von „Bojins“ verstört wird, „Körperlosen“ in Kindergestalt, die sie zunächst häufig, dann immer seltener heimsuchen.
„Seit Olivia ein kleines Kind war, sah sie Bojins, wie sie die Körperlosen von Anfang an instinktiv genannt hatte. Als Kind dachte sie, dass alle Menschen sie sehen konnten und es nur ungeschriebenes Gesetz sei, so zu tun, als seien sie nicht da. Meist saßen sie reglos am Tisch, in der Luft schwebend wie auf einem unsichtbaren Stuhl. Es waren Kinder, manchmal hatten sie Lumpen an, oft Nachthemden aus vergangenen Jahrhunderten, und immer waren sie barfuß. Noch nie hatte ein Bojin ihr etwas getan und anfangs hatte sie gar keine Angst vor ihnen. (…) Irgendetwas, eine Art Frequenz in ihr, schien den Wesen Erleichterung zu verschaffen. Es funktionierte einfach so.“
Die Bojins sind ein Beispiel dafür, wie der Autor „aus dem Bauch heraus“ schreibt, in möglichst ruhigem Umfeld „mit viel Platz fürs Auge“, vor allem dort, frei von äußerer Beeinflussung, entwickeln sich nicht nur seine Texte am besten, da fliegen ihm dann auch Wörter wie „Bojin“ zu. „Es floppte plötzlich auf und drängte sich quasi in den Text“, sagt er*.
Wie gut, dass ein deutscher Autor heute nicht mehr Thomas Mann heißen und ein Autor mit wie auch immer geartetem Migrationshintergrund weder politisch korrekt sein, noch interkulturell geprägte Figuren zu seinen Protagonisten machen muss. Wie schade aber, wenn er Chancen vertut, die sich durch Interkulturalität ergeben, oder mit Klischee überhäuft, was etwa italienisch oder türkisch daherkommt. Hier hat es fast den Anschein, als wolle der bekennende „Interkulturalist“ Sağsöz jede erdenkliche multikulturelle Zuschreibung bewusst vermeiden. „Trennungen aller Art bildeten nun mal die Grundstruktur der Welt“, lässt er seine Hauptfigur Anwalt Jassweg sagen, der nicht glaubt, dass es seine Aufgabe sein könnte, „die Ökumene (…) unterschiedlicher Kasten zu initiieren“. Auch Autor Sağsöz scheint sich in diesem Buch einmal entschlossen zu haben, „interkulturelle Ökumene“ auszuklammern.
Davon abgesehen bietet Als wir Libellen waren eine auch logistisch rasante (Lese-)Reise – mit Köln und Bonn als zentralen Orten und Abstechern von München bis Spiekeroog und von Ibiza bis Bad Urach – mit Einblicken ins doch oft frustrierende Patchwork-Leben moderner Großstadtmenschen wie du und ich und macht Mut weiterzugehen, auch wenn es mal stockt im Lebensfluss.
Alpan Sağsöz: Als wir Libellen waren. Berlin: Schruf & Stipetic, 2015.
*Wörtliche Zitate des Autors aus Mailkorrespondenz vom 21./22.07.2015.
[…] … ein Buch über Beziehungen und Vertrauen, über Verantwortung für sich und seine Nächsten, die eher selten Familie sind, über den Umgang mit Einsamkeit und die Bedeutung von Herkunft und Identität… Sabine Adatepe, angeschwemmt […]
[…] Rezensionen: … ein Buch über Beziehungen und Vertrauen, über Verantwortung für sich und seine Nächsten, die eher selten Familie sind, über den Umgang mit Einsamkeit und die Bedeutung von Herkunft und Identität… Sabine Adatepe, angeschwemmt […]