„Eines Tages werde ich ihr von allem erzählen können, von der Hölle, in der wir alle stecken, von der Qual, vom Selbstmord … Ich denke, ich werde ihr sogar erzählen, dass ich mich umgebracht habe.“ Die junge Canan hat sich überreden lassen, „Nanna“ anzurufen, die Großmutter Başaks. Başak, die junge Malerin, am Weltschmerz und am täglichen Frust mit den Mitmenschen leidend, hatte sich das Leben genommen. Ihr Suizid könnte im Nachhinein als angekündigt verstanden werden, so manchen Hinweis streut der türkische Autor Barış Bıçakçı in seinem sechsten Buch Bir süre yere paralel gittikten sonra (Eine Weile parallel zum Boden dahingekreucht, Istanbul 2008) seinen Protagonisten ins Gedächtnis: Ein Kaleidoskop aus Splittern der Erinnerung vor und nach Başaks Tod, ein Versuch, das Unfassbare zu verarbeiten, gar zu verstehen, ein urbanes Umfeld mit Menschen wie du und ich, gerade deshalb geht die melancholische Geschichte der Leserin so nahe.
Nachbarstochter Canan schlüpft in die Rolle Başaks, denn die Großmutter, Witwe eines Oberst und selbst einer Generalin gleich strenges Regiment führend, soll der Schmerz um die geliebte Enkelin erspart bleiben. Vom schönen Schein einer heilen Welt aber kratzt der Autor mit jedem Kapitel mehr Lack ab.
Warum? Das ist die Frage, die alle umtreibt, meist bleibt sie unausgesprochen, wenn Mutter, Bruder, Freunde, Nachbarn sich episodenhaft erinnern, latent aber ist sie stets präsent. Bruder Umut verzweifelt beinah an dieser Frage, denn war nicht er es, dem sich die Schwester anvertraute, der ihr am nächsten stand, dem sie sich anvertraute, der auch ihren letzten Freund Ahmet sehr mochte, weil der anders war als all die unglückseligen Beziehungen der kaum bindungsfähigen Schwester zuvor? Zu alledem kommt die Sorge um Türkan, die Mutter Başaks, die ihre Kinder allein aufziehen musste, weil der Vater früh ging, wird sie den Tod der Tochter verkraften?
Başak war eine stille Beobachterin, die durch die Oberfläche drang. „Sie wirkten, als wären sie nicht zum Leben hier, sondern um eine Strafe abzubüßen“, meinte sie über Freund Ahmets Eltern, die eine Werkstatt für Bilderrahmen betreiben. Sie fühlt sich wie in einem Lied, wie in einer Glaskugel, die Anspielung auf Sylvia Plath kommt nicht von ungefähr, die Glaskugel selbst werde von einem Lied „in Händen“ gehalten, das Başak aus der Ferne vernimmt.
Die Art der stillen Erzählung aber erinnert an Wilhelm Genazinos Wanderungen durch den Alltag in eher tristem urbanem Umfeld, auch Bıçakçıs Heldin leidet daran, dass sich in den allermeisten Beziehungen keine echte Nähe einstellen wollte bzw. sie keine empfand.
Ländliche Szenen dagegen rufen sogleich die Filme des poetischen Filmemachers Semih Kaplanoğlu auf, auch die Stimmung passt: „Sehnsucht war das Gefängnis mit den höchsten Mauern, aus dem auszubrechen schier unmöglich war.“
Zeiten und Räume verschwimmen. Die verwaiste Mutter Türkan etwa sitzt im Bus und liest, die Busfahrt vermischt sich mit der Geschichte, deren Ende sie empört, die Empörung nimmt sie mit in ihren Tag hinein.
Wie immer bei Barış Bıçakçı brechen nicht nur Tragik und Tod unvermutet in den Alltag hinein, sondern auch das Politische. Was für eine Idee, mit dem kleinen Sohn „Schubkarre“ zu spielen, damit er die grausamen Bilder vom Fernsehbildschirm vergisst: Bilder von der Erstürmung des Bayrampaşa-Gefängnisses im Dezember 2000, Mauern wurden eingerissen, Inhaftierte verbrannten bei lebendigem Leib, das Fernsehen zeigte gnadenlos, wie gegen die hungerstreikenden „Terroristen“ vorgegangen wurde.
Im Umgang mit seinen Protagonisten aber ist es stets der sanfte Weg, den Autor Bıçakçı wählt. Başak hatte ihr Leben lang das Gefühl, in aller Kommunikation auf Unverständnis zu stoßen, was wiederum in ihrem eigenen tiefen Gefühl des Unverstandenseins begründet lag. „Ich werde einen Schritt zum Balkongitter hin tun, werde meine Haare hinabhängen lassen und mich ins Leere stürzen. Unterwegs werde ich auf einen Gutwilligen treffen, falls er nachfragt, werde ich auf die Menschen unten weisen und sagen, ich sei eine Weile parallel zum Boden dahingekreucht, dann erzählte ich ihnen etwas, das sie nicht würden verstehen können. So soll es sein.“
Es gelingt dem Autor einzufangen, wie unser Gehirn funktioniert: Gedanken kommen und gehen, sind selten linear, mäandern vielmehr, springen, hüpfen in entlegenste Gefilde, um doch immer wieder auf einen Brennpunkt zu fokussieren, auch wenn man das gar nicht will.
Der rote Faden ergibt sich erst in der Gesamtschau. „Auf der Suche nach der Wahrheit träumen wir immer schon davon, sie in dem Moment, da wir sie finden, zu verändern.“ Das Schema eines Romans aus Erinnerungsfragmenten bricht Bıçakçı doppelt: Die aus dem Leben gegangene Başak kommt als hochsensible Erzählerin immer wieder selbst zu Wort, und manche Schlüsselszene, vor allem zu Beginn und am Ende, ist nicht Erinnerung, sondern Jetztzeit-Erzählung. „Im wahrsten Sinne des Wortes ein experimenteller Roman“, würdigt der Autor Murat Gülsoy auf seinem Blog.
Das Buch ist getragen von Melancholie und Resignation, zeichnet aber auch zarte, helle Stimmungsbilder und vermag es gar, dem von Verzweiflung geprägten Bruder Umut am Ende einen fruchtbaren Funken Hoffnung zu vermitteln. Semih Gümüş, einer der führenden türkischen Literaturkritiker äußerte über die Geschichten Barış Bıçakçıs: „Es scheint gar nicht wichtig zu sein, was er erzählt, doch so gewöhnlich Stil und Sprache scheinen mögen, Sie werden Ihre Lesegewohnheiten ernsthaft revidieren müssen.“
Barış Bıçakçı: Bir Süre Yere Paralel Gittikten Sonra. İletişim: Istanbul 2008 (bislang unübersetzt).
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