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Gaye Boralıoğlu: Zeit des Aufstands

16. Juni 2013 von Sabine Adatepe

Die türkische Autorin Gaye Boralıoğlu schrieb ihre Glosse Zeit des Aufstands für kitap.radikal.com schon am 11.06. (erschienen am 12.06.2013), jetzt ist sie – leider – wieder brandaktuell. Hier die Übersetzung:

Ich lege den Stift nieder, Worte liegen unter einer Tränengaswolke, ich gehe hinaus, zum Aufstand hin!

Vor drei, vier Jahren bat mich eine junge Frau um ein Interview für eine Doku, die sie über den Putsch von 1980 und die Zeit danach vorbereitete. Wir sprachen darüber, wie es war, in der Zeit nach dem Putsch Frau zu sein, über die Folter, über das Leben im Gefängnis, über den Geist jener Jahre. Am Ende fragte sie mich, was ich mir im Leben noch wünsche. Und ich erwiderte: „Ich möchte einen Aufstand erleben.“

Vor kurzem schickte sie mir eine Nachricht, seit einigen Tagen gehe ihr dieser Satz im Kopf herum. Ja, heute ist dieser Tag gekommen. Ich erlebe einen Aufstand. Obendrein einen historischen Aufstand, der das Gewohnte sprengt, eine ganz neue Sprache spricht, völlig berechtigt und viel stärker ist, als ich es mir hätte vorstellen können! Nun könnte ich ohne Gram sterben.

Dennoch verursachen die Töne, die ich im Augenblick vernehme, bei mir auch tödlichen Schmerz. Die von einer Verstandeslähmung befallene Regierung bombardiert Zehntausende vollkommen wehrlose Menschen mit Tränengasgranaten und setzt Wasserwerfer gegen sie ein. Hunderte von Verletzten und Verhaftungen werden gemeldet. Die Polizei führt auf der Taksim-Bühne ein skrupelloses Drama der Gewalt auf.

Ich höre mir die Reden des Gouverneurs, des Polizeichefs, des Ministerpräsidenten an. Je mehr sie reden, je mehr verstricken sie sich in Lügen. Der berechtigte Stolz, die Regierung einer großen Mehrheit zu sein, in diesem Land nach Belieben herrschen zu können, ohne mit der kleinsten Opposition konfrontiert zu sein, ist längst der rasenden Wut eines verwöhnten Kindes gewichen, dem man sein Spielzeug weggenommen hat. Die Attitüde des Selbstvertrauens ist längst eingebüßt, sie wissen, dass in ihrer Seele von nun an stets eine nagende Angst wohnen wird, selbst wenn sie diesen Aufstand bezwingen.

Jetzt rieche ich den Rauch der Tränengasgranaten. Noch gestern Abend sah ich Hunderttausende lachende Gesichter im Gezi-Park. Frauen und Männer unterschiedlicher Kulturen, unterschiedlicher politischer Meinungen und unterschiedlichen Glaubens. Wunderbare Menschen, denen es gelingt, während des Aufstands fröhlich zu sein, mit arglosem Geist Politik zu machen und auf die exzessive Gewalt mit exzessivem Verstand zu antworten. Junge Leute, die nach ihrem Gewissen handeln, die mit Menschenketten Widerstand leisten, die über keine andere Waffe als ihren Körper verfügen.

Nun reizt das Gas meinen Rachen, ich stehe auf, trinke Wasser, meine Augen brennen. Der Ministerrpäsident gab in einer Rede den Aktivisten zu verstehen, sie stünden unter seiner väterlichen Obhut. Ich verstehe seine Wut durchaus. Denn er sieht sich klugen, sensiblen, kreativen Menschen gegenüber, er selbst verfügt über kein anderes Talent als Politik zu machen, dabei hätte er mehr gewollt, ich weiß. Er ist sich bewusst, dass die strahlendste Zeit seines Lebens hinter ihm liegt, er sieht, dass er sich Schritt für Schritt auf den Tod, also auf das Ende, zubewegt, ihm gegenüber aber stehen junge Leute im Frühling ihres Lebens. Die Medien, die er mit Tricksereien zum Schweigen brachte und zum Sprachrohr seiner Regierung machte, stehen hilflos im Schatten von Twitter und Facebook, zu denen jeder über sein Mobiltelefon Zugang hat. Angesichts einer ironischen Sprache, so stark, dass sie Satirezeitschriften überlegen ist, erinnert er sich daran, dass er nie jemanden zum Lachen gebracht hat. Während er im Sauseschritt auf das widrige Schicksal des Verlierers zusteuert, spürt er, dass mit jedem Tag weniger Menschen hinter ihm stehen.

Mittlerweile tränen mir die Augen. Nur mit Mühe erkenne ich die Wörter noch. Die Lobby eines Hotels wurde zur Krankenstation umgewandelt, freiwillige Ärzte versorgen dort Verwundete. Die Polizei spritzt Hochdruckwasser auf einen Rollstuhlfahrer. Tausende versuchen, auf den Taksim zu gelangen, um die Protestierenden zu unterstützen. Der Name des Ministerpräsidenten wird auf der Liste der Tyrannen des 21. Jahrhunderts verzeichnet. Dieser Totalaufstand geht in die Geschichte ein.

Ich lege den Stift nieder, die Worte liegen unter einer Tränengaswolke, ich gehe hinaus, zum Aufstand hin!

Dieser Text wurde am Dienstag, 11. Juni, umd 22.15 Uhr fertiggestellt.

(Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe)

Originaltext auf kitap.radikal.com

Bei binooki erschien jüngst Gaye Boralıoğlus Roman “Der hinkende Rhythmus” (Deutsch von Recai Hallaç).

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Veröffentlicht in Allgemein | Verschlagwortet mit Gezi-Park, Istanbul |

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