Die türkische Schriftstellerin Sema Kaygusuz meldete sich am 11.06.2013 in der Tageszeitung RADIKAL mit folgendem Beitrag zum Bürger-Protest in der Türkei zu Wort:
41 Jahre alt bin ich und habe nun zum ersten Mal im Leben ein Land. Dieses Land ist nicht mehr eine Eventualität, sondern eine neue Zukunft, die sich mit dem Widerstand im Gezi-Park manifestiert. Im Gezi-Park geschieht derzeit Einzigartiges. Die markantesten Charakteristika dieses Protestes sind, dass er frei von Hass ist und ohne jede Zerstörungswut. Er ist das Lachen, das dem Tyrannen den Nerv raubt, ist eine außergewöhnliche Art der Solidarität von sprühender Intelligenz und eine friedliche Aktionsform. Alle, die sich dort versammelt haben, schieben konfessionelle und religiöse, sexistische und heterosexistische, rassistische und nationalistische, also sämtliche politischen Neigungen, die Individualität und Individuum missachten, beiseite und erinnern die Gesellschaft der Türkei an einen gemeinsam Wert. Den Wert der FREIHEIT. Ungeachtet der entsetzlichen Provokationen, mit dem der Ministerpräsident die Gesellschaft terrorisiert, der irreführenden Rhetorik vertrauensunwürdiger Staatsmänner, der brutalen Polizei, die die Bürger attackiert, aller Verleumdungen, Lügen und Panikmache zum Trotz wird dieser fröhliche Aufstand im Andenken an jene, die erblindeten, und jene, die ihr Leben ließen, einen jeden verändern.
* Der Ministerpräsident muss den Rückzug antreten und sich bei allen, die er beleidigt hat, entschuldigen. Auf dem Taksim-Platz, dem Herzen dieses Landes, das zugleich ein mediterranes, nahöstliches, europäisches und ein Schwarzmeerland ist, dieser großen Halbinsel, die die ägäischen Zivilisationen und Anatolien in ihren Genen trägt, wäre es Überheblichkeit zu glauben, man könne eine friedliche Volksbewegung mit Waffengewalt niederzwingen.
* Alle Polizisten, die gewalttätig gegen Bürger vorgegangen sind, müssen vom Dienst suspendiert werden, sonst verdient die Republik Türkei den Namen Polizeistaat Türkei.
* Der Imam der Dolmabahçe-Moschee, Fuat Yıldırım, [der seine Moschee den Protestierenden für Erste Hilfe zur Verfügung stellte] sollte zum „guten Menschen“ erklärt werden.
* Der Gouverneur von Istanbul und die Polizeichefs sind abzusetzen, damit der Staat zu einem vertrauenswürdigen Apparat werden kann.
* Die festgenommen Aktivisten müssen freigelassen werden.
* Die unrechtmäßig festgenommen Anwälte müssen freigelassen werden.
* Es macht nichts, wenn käufliche Schreiber und ihre Bosse in den Mainstreammedien, die die Wahrheit vor der Bevölkerung verbergen, schweigen. Ohnehin können sie den Skandal, den sie verursacht haben, nicht mehr ausmerzen.
* Nicht allein die Regierungspartei AKP muss ihre Lehren aus dem Widerstand vom Gezi-Park ziehen, sondern alle Parteien. Es ist wohl deutlich geworden, wie primitiv das paternalistische Verhältnis ist, dass die politische Führung zur Gesellschaft pflegt. Jeder hat eigene Eltern, da ist kein Platz für Ersatzväter. Von nun an wird alles aufgeklärt, illegale Interventionen und das Massaker in Reyhanlı, Knochenfunde in Gruben und der Anschlag auf Hrant Dink, das Roboski-Massaker und die Suizide von Soldaten beim Militär und alles, was sonst noch aufzuzählen wäre. Nicht sofort, aber es wird geschehen, Sie werden es sehen.
So sehr faschistische Geister versuchen, ihr tödliches Gedankengut aufzuzwingen, die erste gemeinschaftliche Emotion, die aus den Baumwurzeln spross, war doch unbändige Lebensfreude. Dies ist eine großartige Gelegenheit, das Böse und Schlechte samt dem Pessimismus ins Museum zu verfrachten.
(aus dem Türkischen von Sabine Adatepe)
Originaltext auf kitap.radikal.com