Ein Großstadtpark. Zu Ravels Bolero betreten vier Frauen und ein Mann die Bühne, erstarren zum Standbild. „Die Menschen waren versteinert, die Statuen aber zum Leben erwacht“, berichtet Nergis, das Mädchen in der roten Kiste, später von ihrem Traum. Kutu Kutu (Allerlei Kisten), das neue Stück der türkischsprachigen Hamburger Theatergruppe Tiyatro İstasyon, spielt in einem Park mit hypermodernen Plastiken, ein Vorzeigeprojekt, ein „Lebens- und Kommunikationsraum“ (laut Flyer), eine Allegorie auf die soziopolitischen Verhältnisse in der Türkei. Autor Memet Baydur (1951-2001) scheint mit seinem Stück von 1994 das Heute vorausgeahnt zu haben.
Ein Glücksgriff: Personelle Gründe im Ensemble ließen aus Baydurs Clochard Tahir eine Dame werden, Tahire, ebenso charmant wie gekonnt gespielt von Nazmiye Acar. Mehr blitzgescheite, redegewandte Philosophin als bedauernswerte Obdachlose, verkörpert sie mit bissigem Humor und Ironie, mit Gesang und Poesie die Lebensweisheit der Straße, das Gewissen und Gedächtnis der Gesellschaft. Immer wieder berichtet sie von Düşkent (Traumstadt) als einer lebenswerten Utopie, die zu Beginn des Stücks fast möglich scheint – solange die vier Frauen im Parkprojekt vereint sind: Tahire, Stadtplanerin Ayşe (Fatma Kurt), die als Clou der Hypermoderne einige Plastiken – Kisten – bewohnen lässt und in gewagtem Outfit Abend für Abend die Skulpturen im Park persönlich inspiziert, Nergis (Özlem Özçep/Burcu Özdirik), die 20-jährige Ausreißerin und Bewohnerin der zentralen roten Kiste, und Canan (Hanife Klein), eine vom Leben und Lieben enttäuschte Singlefrau, die über Schlaflosigkeit klagt und unversehens zu den Parkbewohnerinnen ins Boot steigt. Gemeinsam verspotten sie Banker Murat, der sein entlaufenes Hündchen Fifi sucht und Allgemeinplätze bürgerlicher Moral von sich gibt, als deren Verkörperung er auftritt: „In diesem Land sind die Schrauben locker.“ Er mokiert sich über Ayşe, seine Ex-Verlobte, die nun als emanzipierte Stadtplanerin in der Kommune Karriere macht. „Du musst doch nicht arbeiten“, erinnert er sie. „Arbeitest du nur, weil du es musst?“, fragt sie zurück.
Ayşe ist die moderne Frau, die Karriere machen, selbstbestimmt leben und doch ganz Frau sein will. Ein Spagat, von dem viele Frauen in modernen Gesellschaften ein Lied singen können. Als die Zeiten sich wandeln und aus dem lächerlichen Banker mit Wohnsitz im Hotel Mama ihr Vorgesetzter wird, mittlerweile zum ambitionierten urbanen Muslim mutiert, vollzieht sie, wenn auch zunächst widerstrebend, den Wandel mit, um ihren Job nicht zu verlieren. Aber heiratet man deshalb einen Mann, den man aus tiefstem Herzen verachtet?
Der neue Bürgermeister setzt im Zuge seiner wertekonservativen Wende ein neues Parkkonzept ein, das Murat als frisch installierter Berater und Oberinspektor des Projektes „Skulpturen und Zirkusse“ umzusetzen hat. Was auf den ersten Blick den Anschein einer notwendigen Initiative hat, denn der Park ist augenscheinlich heruntergekommen, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als Kontroll- und Nivellierungsprojekt: Keine Skulpturen mehr, keine Bewohnerinnen, weder offizielle Kistenbesetzerinnen noch Obdachlose, keine Hunde. Murat muss dringend Fifi loswerden, das Hündchen hat er umbenannt in Ketzer, er lässt es im Park zurück, doch Hausfrau Canan nimmt es fürsorglich auf. Das Schicksal des Hundes und ihr eigenes kümmern sie mehr als die Parksäuberungsaktion. Die gewitzte wetterwendische Ayşe riecht, woher der Wind weht und rettet „ihren“ Murat aus beschämenden Diskussionen mit den Parkbewohnerinnen, rasch hat sie die Seite gewechselt. Der Mann ist so lächerlich als wie zuvor, überzeugend überzogen von Murat Büyükalp gespielt.
Am Ende fegen Nergis aus der Kiste und die obdachlose Parkpoetin Tahire in Stadtreinigungskluft den Park. Nun trinkt Tahire den Rum tatsächlich, dessen Konsums sie seit je bezichtigt worden war. „Was für ein Unding!“, klagt Nergis. Doch Tahire urteilt: „Das hier sind kleine Dinge. Das Herz des eigentlichen Übels liegt anderswo.“ Gibt es so etwas wie das Herz des Übels? Wenn ja, wo? Die Frage richtet sich ins Publikum. Die Szene gerinnt zum Standbild, die Klammer zur Eingangsszene schließt sich.
Ein ebenso schlicht gehaltenes wie eindrucksvolles Bühnenbild – mit Metropolsilhouette, Parkbank, Laterne, einer Skulptur und besagten Kisten – und ein durchdachtes Musikkonzept mit Zitaten aus Klassik, Pop, türkischer Kunst- wie auch Arabeskmusik runden die gelungene Aufführung ab. Baydurs Vorlage ist mit Sprachwitz gespickt, Regisseurin Serap Sadak setzt mit Bezügen zur türkischen Tagespolitik Akzente, Pointe folgt auf Pointe, manchmal im Stakkato. Die Laien-SchauspielerInnen meistern das Sprachfeuerwerk bravourös, eine Herausforderung ist es aber auch für das Publikum. Im Stammhaus von Tiyatro İstasyon, der Türkischen Gemeinde Hamburg, applaudiert das Publikum im ausverkauften Saal begeistert. Die Zustimmung gilt der famosen Leistung der Theatertruppe, nicht minder aber auch dem Tenor des Dramas, dem hier herrschenden Konsens über Islamisierung als Gefahr.
Tiyatro İstasyon spielt ausschließlich auf Türkisch, hat aber auch bereits gute Erfahrungen mit deutscher Unter- bzw. Übertitelung gemacht. So zuletzt mit Sınır (Die Grenze, 2011). Auch Kutu Kutu soll diesen Weg gehen, um für ein breiteres Publikum tauglich zu werden. Hier ist zwar Islamisierung angeprangert, letztlich aber geht es um die Warnung vor jeder Art von gleichmacherischem, repressivem Regime, bei dem die Ideologie und nicht der Mensch im Vordergrund steht.
Aktuelle weitere Termine: 27.04. und 04.05., jeweils um 20 Uhr, TGH, Haus 7, Hospitalstraße, Hamburg-Altona.
(Szenenfoto © M. Kemal Adatepe/Tiyatro Istasyon)
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