Warten auf die Lektorin – hätte das jüngste Buch von Barış Bıçakçı auch heißen können. Der in Ankara lebende Autor und Übersetzer ist hierzulande noch immer ein Geheimtipp. Doch der Titel des 2011 bei Iletişim erschienenen Bandes, der einen Autor durch die bangen Monate vor der Verlagsrückmeldung zu Annahme oder Ablehnung seines ersten Buches begleitet, lautet Sinek Isırıklarının Müellifi (Der Urheber der Mückenstiche).
Cemil, ehemals durchaus erfolgreicher Bauingenieur mit ausgedehnter Reisetätigkeit, hat sich nach Hause zurückgezogen, in einer Neubau-Wohnanlage am Rande Ankaras, um seine eigentliche Berufung leben zu können: Schreiben. Seinen ersten Roman hat er soeben im Verlag in Istanbul abgeliefert, nun wartet er täglich, stündlich auf den Anruf aus dem Lektorat. Unterdessen lebt er seine – ihm mittlerweile allzu – ruhige Beziehung zu Ehefrau Nazlı, einer berufstätigen Ärztin, trifft sich sporadisch mit Freunden, lässt sich als Hausmann (natürlich fällt diese Bezeichnung nie) in häusliche und nachbarschaftliche Angelegenheiten verwickeln, kümmert sich um das notorisch durchleckende Bad, sorgt sich um die bettlägerige alte Nachbarin im Untergeschoss, die ihn bei den seltenen Begegnungen (das Bad leckt durch!) bittet, ihr bei der „Aufklärung der Morde“ behilflich zu sein, kauft ein, kocht, übernimmt eine Art Mentorenrolle für den Enkel der kranken Nachbarin, der studiert und ebenfalls schreibt, und geriert sich in Gespräch und Gedanken als Intellektueller mit einer Vielzahl von Zitaten und Anspielungen auf türkische und internationale Literatur.
Das Cover ziert eine Trabanten-Hochhaussiedlung und ihre Erzählung zieht sich gleich einem roten Faden durch den Band. Die scheinbar launige Schilderung der Baufortschritte der Gated Community, in deren erstem Abschnitt der Protagonist lebt und deren Stimmung sich mit seiner vermischt, birgt unterschwellig eine gute Portion Sozialkritik, denn auch hier beobachtet Autor Bıçakçı genau. Sein Blick gilt den Fröschen, die bald unter den zahlreicher werdenden Autoreifen enden, ebenso wie den dunkelhäutigen Arbeitern, die von öffentlichen Fernsprechern aus ihre fernen Familien anrufen, in einer Sprache, „die wir nicht verstanden“.
Wenn Mitte der 2000er Jahre jemand am Susuz-See in der Wohnanlage vorbeikam, den eingezäunten Teich betrachtete, am Zugang das Schild „Göksu-Park“, und sagte: „Früher hingen hier lauter Säufer rum, da wusste man nie so genau; wie schön ist das jetzt geworden!“, fand er rasch Zustimmung. Große Lügen stoßen rasch auf Zustimmung. (135)
Bıçakçıs Bücher wirken wie unprätentiöse Skizzen aus dem Alltag eines, der Schreiben bzw. Übersetzen zu seinem Lebensinhalt gemacht hat. Statusmeldungen aus dem Entschleunigungslager, stille Erzählungen, in denen immer wieder Früchte intellektuellen Denkens und großer Belesenheit aufblitzen.
2003 erschien Aramızdaki En Kısa Mesafe (Die kürzeste Distanz zwischen uns), eine in Form und Perspektive ungewöhnliche Entwicklungsgeschichte: Der Ich-Erzähler entwirft in 24 kurzen Episoden seinen Alltag im Alter von etwa 5 bis 25 Jahren, und erzählt wie nebenbei vom Aufwachsen in Ankara, davon, was einen Heranwachsenden bewegt, wie einmal wichtige Dinge allmählich anderen weichen, wie sich das Verhältnis der Generationen zueinander verschiebt. Auch hier besticht der Autor durch seine ruhige Erzählweise – der entflogene Vogel, das Kaugummi im Haar des kleinen Bruders, Briefmarkentausch, der unerträglich werdende Aufenthalt beim Onkel, als der eigene Vater aus politischen Gründen nach dem Putsch 1980 arbeitslos wird, die Begleitung der alt gewordenen Großmutter ins Krankenhaus, die Hochzeit des Bruders … und immer wieder leuchtet die aufgrund der plötzlichen Arbeitslosigkeit des Vaters schwierige Lage der Familie durch. Ein stiller Band, der mehr über das Leben in der nach wie vor politisch instabilen Türkei vermittelt, als so mancher polternd mit Action und Skandalen daherkommende Bestseller es vermag.
Auf Deutsch erschien als erstes von Bıçakçıs bisher sieben Büchern im September 2012 Unsere große Verzweiflung (Org. Bizim Büyük Çaresizliğimiz, 2004) in dem jungen Berliner Verlag binooki, eine ebenso leichthändig wie melancholisch erzählte Dreiecksgeschichte, die sich als großartiger Freundschaftsroman entpuppt. Im Verlag auf dem Ruffel sind zwei weitere Übersetzungen in Arbeit. Das Schicksal der trotz brillanter Intelligenz stets etwas gehemmt wirkenden Helden Bıçakçıs, die meist wie ihr Autor lieber im Hintergrund bleiben, scheint auch Bıçakçıs Bücher zumindest auf dem deutschen Buchmarkt zu ereilen. Dabei gilt es, hier einen Schatz zu heben; die renommierte türkische Autorin Ayfer Tunç empfahl auf der Frankfurter Buchmesse jüngst auf die Frage nach jungen Autoren mit großer Zukunft Barış Bıçakçı als einen von zwei Namen, die sie überaus schätze.
Cemil, der „Urheber der Mückenstiche“, erhält am Ende tatsächlich den so ersehnten wie gefürchteten Anruf der Lektorin. Wunderbare Sprache, poetisch geradezu, wie man es bei Prosa selten erlebe, diagnostiziert sie, nur sei der Held zu positiv, zu ethisch korrekt. „Beschmutzen Sie Ihren Helden ein wenig“, rät sie. Eine frühe Erfahrung des Autors selbst? Dass die Diagnose der Lektorin auch auf manche von Bıçakçıs Helden zutrifft, ist nicht von der Hand zu weisen. Da hilft keine Herzmassage, keine künstliche Beatmung, denkt Cemil und beginnt, sich ganz neu zu sortieren.
Barış Bıçakçı: Sinek Isırıklarının Müellifi. Istanbul: İletişim 2011.
Barış Bıçakçı: Aramızdaki En Kısa Mesafe. Istanbul: İletişim 2003.
Barış Bıçakçı: Unsere große Verzweiflung. Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe. Berlin: binooki 2012.
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