Die Geschichte einer Zwangsheirat außerhalb der Klischees und die Probleme, die sie mit sich bringt, thematisiert der kurdisch-schweizerische Autor Yusuf Yeşilöz, der sich mit sensiblen Psychogrammen zwischen den Kulturen einen Namen gemacht hat, in seinem neuen Roman Hochzeitsflug (Zürich 2011).
Ob hier die Frau in die Ehe gezwungen wird, ist nicht das Thema. Wie die Frau überhaupt zu der ganzen Sache steht, erfährt die Leserin nicht. Vielmehr geht es um den Mann: Beyto, türkisch-tscherkessischer Herkunft, der seinen Eltern nach Jahren in der Schweiz wieder einmal ins Dorf folgt, vermeintlich für drei Wochen Ferien.
Achtjährig war er mit der Mutter vom Vater, der in einer Schweizer Kleinstadt ein Kebab-House aufgemacht hatte, nachgeholt worden und hatte mit voller Wucht den doppelten Schmerz der Entwurzelung und des Neuanfangs in einer fremden Welt mit unbekannter Sprache und Kultur erlebt und erlitten. Zu Hause lebt in der Welt der Eltern, die nur in der Erinnerung an die Heimat glücklich und sie selbst sind, das tägliche Umfeld aber als notwendiges, vorübergehendes Übel wahrnehmen und die westlichen Sitten und Gebräuche verachten. Ansonsten aber ist Beyto ein moderner junger Schweizer, der kurz vor dem Ende seiner Informatik-Ausbildung steht. Nur ungern trennt er sich von Manuel, dem langjährigen Schulfreund, der seit einer Weile sein Partner ist und ihn zum Coming-Out der Familie gegenüber drängt.
Im Dorf erfährt Beyto von der eigenen, unmittelbar bevorstehenden Hochzeit mit Kusine Sahar, die ihm von Kindheit an versprochen war. Er wehrt sich, doch der Vater nimmt Pass und Ticket an sich und setzt die Eheschließung durch. Merkwürdig passiv lässt Beyto alles über sich ergehen, getragen allein von dem Gedanken, schon bald wieder fort zu sein und damit Frau und Dorf hinter sich zu lassen. Er mag Sahar, was die Sache nicht leichter macht. Seine Liebe aber gilt Manuel.
Das wahre Drama beginnt für Beyto erst, als Manuel ihn am Flughafen daheim mit einer roten Rose begrüßt – und der Vater unverzüglich von der Hochzeit erzählt. Manuel ist schockiert, zerbricht an dieser Nachricht, als Beyto sie bestätigt. Er gibt Beyto keine Gelegenheit, alles zu erklären. Es kommt zum Bruch, und Wochen der Verzweiflung und gegenseitigen Wut und Enttäuschung folgen. Manuel versteht nicht, warum Beyto seinen Eltern nicht die Wahrheit über sich sagen kann. Als der Vater trotz Beytos Weigerung dafür sorgt, dass Sahar in die Schweiz kommt, entscheidet sich Beyto zur Flucht ins Ausland. In England findet er einen Job und eine Art Ersatzfamilie unter konservativen Landsleuten, die nichts von seiner Geschichte ahnen. Doch er nimmt Kontakt zur Heimat auf und es kommt nach Monaten zur Aussprache mit Manuel. Das Ringen mit sich und der Umwelt, die Zerrissenheit zwischen Traditionen, die Respekt und Zusammenhalt bieten und gebieten, und dem Wunsch, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, zieht sich durch das ganze Buch.
Am Ende bleibt offen, wie Beyto sich entscheidet. Er will sich stellen, will der Flucht ein Ende setzen. Viel mehr weiß er selbst noch nicht, als er Abschied nimmt von der Ersatzfamilie.
Man möchte ihm wünschen, dass es ihm gelinge, zu seiner homosexuellen Identität zu stehen und sich zugleich nicht der Verantwortung der Familientradition zu entziehen, die ihm die Ehe mit der „Importbraut“ auferlegt. Wie wäre es etwa mit einem klärenden Gespräch unter vier Augen mit eben dieser Braut? Sie wäre nicht die erste, die über den Weg einer gescheiterten Ehe den Weg in die Emanzipation von Familie und Tradition auch für sich findet.
Eine bewusste Entscheidung des Lektorats dürfte es gewesen sein, die Sprache des Ich-Erzählers ungeschliffen zu belassen. Es braucht eine Weile des Einlesens, doch letztlich passt der ungewohnte Sprachduktus zum Erzähler, lässt ihn fremd und vertraut zugleich erscheinen, ermöglicht dadurch Distanz und Mitgefühl im selben Atemzug, was dem Thema nur zuträglich sein kann.
Es gelingt Autor Yeşilöz auch diesmal, dem Schmerz, der Zerrissenheit und dem allmählichen inneren Wandel seines Helden sensibel nachzuspüren, ohne zu werten, ohne zu verurteilen, und damit subtil Türen zu öffnen, wo verhärtete Fronten den Blick auf die Zukunft verstellen.
Ein mutiges Buch, das den Schleier zieht von einem Thema, das noch immer ein Tabu ist in einer Gesellschaft, in der Ehre, Tradition und Sozialgemeinschaft bis heute alles sind und die Gefühle, Wünsche und Bedürfnisse des Einzelnen wenig gelten. Doch auch diese Gesellschaft ist im Wandel, nicht zuletzt durch die Auswirkungen der Migration. Unterdrückte, verschwiegene Geschichten aus der Vergangenheit sind in Hochzeitsflug bereits angedeutet. Mit Beyto wird das Schweigen enden – wie das Verschweigen und Verdrängen vieler Themen endet und noch die geschlossenste Gesellschaft sich letztlich öffnen wird. Der Weg dorthin ist für alle Beteiligten steinig und schmerzhaft. Bücher wie Hochzeitsflug können ihn verständlicher und damit leichter machen.
Yusuf Yeşilöz: Hochzeitsflug. Zürich: Limmat Verlag 2011.
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