Wie lebt ein nicht mehr ganz junger und geradezu verzweifelt ambitionierter Kunsthistoriker 1939/40 im Shanghaier Exil? Lothar Brieger ist einer von vielen, die ab 1938 in Shanghai an Land gingen und deren Schicksal die Berliner Autorin Ursula Krechel in ihrem Roman Shanghai fern von wo aufgegriffen hat. Nach rund zehnjähriger Recherche, sie habe so ziemlich alles zusammengetragen, was man über das Exil in Shanghai wissen kann, so Krechel, war es vor allem Empathie, die – zunächst ein Hörspiel und dann – einen Roman aus dem Archivmaterial entstehen ließ. Nicht zu vergessen die „metallische Stimme“ von Buchhändler Ludwig Lazarus in der erhaltenen Tonbandaufnahme über seine Shanghaier Exilerfahrungen gefiel Autorin Krechel, die am 28. Juni in Hamburg las.
Die neue Leiterin der Forschungsstelle für deutsche Exilliteratur der Hamburger Germanistik, Doerte Bischoff, hatte zu Lesung und Podiumsdiskussion unter dem Titel Exil und Exilforschung: Aspekte ihrer Aktualität in den edlen Lichthof der Staatsbibliothek geladen. Ein gelungener Auftakt für ihr Anliegen, den Forschungsbereich zu öffnen, über die 1933-45 im Exil entstandene Literatur deutscher AutorInnen, über nationale Beschränkungen, über das Sammeln und Sichern von Dokumenten hinaus. U.a. wird es im Herbstsemester 2011 dazu eine Ringvorlesung geben, auf die man gespannt sein darf. Besonders interessiert Bischoff auch der Grenzbereich zwischen (fiktiver) Literatur und Literaturwissenschaft. So war es kein Zufall, dass sie an diesem Abend zwei Autoren aufs Podium bat, die beide Bereiche integrieren.
Aris Fioretos schreibt Schwedisch, bezeichnet Deutsch aber gleichfalls als Muttersprache. Er las u.a. eine „Karteikarte“ aus Der letzte Grieche, einem Roman über die verschiedenen Spielarten von Migration, der seinen Ausgang 1922 mit der Vertreibung der Griechen aus Smyrna, dem heutigen Izmir, nimmt. Die davon betroffene Großmutter der Hauptperson gehört zu einem Kreis von dreizehn griechischen alten Damen, die sich vornahmen, alle Exilgriechen auf Karteikarten zu verzeichnen und in einer Enzyklopädie zusammenzustellen. Mit seinem Roman erfüllt Fioretos diesen Wunsch auf seine Weise, er nennt es ein „fiktives Supplement“. Fioretos sind zwei Grunderfahrungen wichtig, die allen Exilanten und Migranten gemeinsam seien: die mit dem Auswandern einhergehenden Brüche und Verluste und die „Ankunft als Fragezeichen“ des Einwandernden. „Ein Migrant muss sich neu erfinden, neu kontextualisieren“, meint Fioretos und erklärt die Literatur zur „Taufpatin aller Erfindungen“.
Die Problematik der Begrifflichkeiten diskutierte Doerte Bischoff im Anschluss insbesondere mit Klaus Briegleb, dem kritischen Germanisten und Gründungsvater des Bereichs deutsche Exilforschung in den 1970er Jahren. Die klassische Unterscheidung in Exilanten (politische, meist nicht-jüdische Auswanderer) und Emigranten (jüdische Auswanderer) nennt Briegleb „fatal“, aber damals empirisch gegeben. Die westdeutsche Exil-Grundlagenforschung habe damals viel nachzuholen gehabt. Heute seien Versäumnisse der Gründerjahre aufzuarbeiten. Bischoff wies noch auf die Problematik der nach wie vor unterschiedlichen Wertigkeit von politischen Flüchtlingen und Wirtschaftsmigranten hin. Ihre Frage, ob die starken Frauen in Shanghai fern von wo dem feministischen Impetus der Autorin zu verdanken seien, verneint Krechel. Die Rollenumwidmung, Frauen ehemaliger Professoren, Anwälte usw., übernehmen im Exil die Rolle der Versorgerin, sei eine soziologische Tatsache, die sich auch in mancher Flüchtlingsfamilie heute in Deutschland beobachten lasse. In ihrem Roman ist es Franziska Tausig, die mit Kochkünsten den in Lethargie versinkenden Ehemann, einst Anwalt und von ihr als großer Mann verehrt, durchbringt. Aus Teigresten ihres Wiener Apfelstrudels, für den sie vom Fleck weg engagiert wird, kreiert sie mit Gemüseresten eine ungewohnte Leckerei: Die Frühlingsrolle. Fiktion und Dokumentation fließen ineinander, wer sich, wie Franziska Tausig, wie Millionen andere, „neu erfindet“, überlebt, beginnt ein neues Leben. Nur fünf Prozent der Exilanten und Emigranten kehrten nach 1945 nach Deutschland zurück. Der Begriff der Literatur, so Briegleb, sei zu eng, um ihnen allen gerecht zu werden.
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