In der neuen Lettre International gibt die türkische Schriftstellerin Sema Kaygusuz in der gewohnten philosophisch-poetischen Weise Impulse aus nicht alltäglicher Perspektive zur aktuellen Multikulturalismusdebatte. Demnächst läuft ihr Stipendium vom Berliner Künstlerprogramm des DAAD aus, mit dem sie ein Jahr in Berlin war. Ihren zweiten Roman Eine Stelle in deinem Gesicht, der sie von dem „in sie gesäten Schweigen“ befreite, hatte sie als Writer in Residence in der Villa Marguerite Yourcenar bei Lille in Frankreich fertiggestellt. Verschiebung von Perspektiven und interkulturelle Begegnung auch auf internationaler Ebene machen seit langem einen Teil des Lebens der Wahl-Istanbulerin aus.
Ein Wissenschaftler in der Eiswüste hantiert mit Kompass und Geräten und glaubt sich verzweifelt verloren. Sein Begleiter, ein Eskimo, hält gelassen dagegen: „Nein, wir sind im Augenblick genau hier.“
Von diesem „Hier“ geht Kaygusuz in ihrem Essay aus und zeigt, wie mit Zeit und Raum unterschiedlich umgegangen wird, an Beispielen aus der Literatur, an Erfahrungen mit dem Schreiben und Lesen, mit Lesungen und Interviews. Fremdheitsmomente entstehen unvermutet im Zusammenprall unterschiedlicher kultureller Codes. Als Autorin fühlt Kaygusuz sich im Westen mit einer bestimmten Erwartungshaltung von LeserInnen und KritikerInnen konfrontiert, andererseits sieht sie den westlichen Wunsch nach Orient und Exotik durch die konservativen Kulturpolitiker ihres Landes gefördert und allzu gern bedient. Beide Seiten beschneiden damit die kreative Freiheit von Künstlern.
Multikulturalismus schließlich versteht Kaygusuz keineswegs als ein Ideal, sondern als eine Form „würdevoller Trauer“, erwachsen aus den zivilisatorischen Tragödien der Menschheit. Der Diskurs des Multikulturalismus sei formbar, je nachdem, wer ihn sich zu eigen macht, kann er der Verständigung dienen oder auch der Entzweiung. Eine echte pluralistische, egalitäre Gesellschaft aber sei Voraussetzung für Multikulturalismus.
Textverständnis über historische und kulturelle Codes hinaus und im Sinne eines gemeinsamen uralten Wissens der Menschheit verdeutlicht Kaygusuz am Gegensatz zwischen Chronos, der die Geschichte auf ihren chronologischen Verlauf reduziert, und Kairos, der Vergangenheit, Zukunft und Jetzt im Augenblick zusammenführt.
Ein Rückgriff gilt der Großmutter der Autorin, die ihr in der Kindheit den Feigenbaum, die Feige als Schwester vorstellte und in der Atmosphäre gelebten Alevitentums mit Wurzeln im Schamanismus und Naturglauben ohne Weiteres imstande war, Bäume mit Menschen gleichzusetzen. Hier mache sich wiederum das alte Gesetz Kairos’ bemerkbar, alle Dinge auf Erden seien von einem Wesen. Chronos dagegen betrachte von außen, ohne selbst beteiligt zu sein. Er brauche die Distanz. Sympathie dagegen benötige mehr als bloßes Anschauen. Zwischen oberflächlichem Interesse und Sympathie bestehe eine Kluft, letztere erfordere unmittelbares Miterleben und beginne hier und jetzt mit allumfassender Akzeptanz.
Kaygusuz rekurriert auf Walt Whitman, den großen Lehrer für ihr Schreiben: Lesen ist nicht nur ein Vergnügen, sondern die Verschmelzung mit der Welt durch Worte.
Die Wörter berühren uns zweifach, verstandesmäßig und seelisch. Ein solcher Ort ist das „Hier“: ein Ort, an dem das Wort sowohl die Seele als auch den Verstand berührt.
Bevor Sema Kaygusuz nach Istanbul zurückkehrt, ist sie noch bei der Eröffnung des Literaturfestivals DilDile am 25. März 2011 in der Berliner Volksbühne dabei.
Sema Kaygusuz: „Multikulturalistische Reduktion“ in: Lettre International 92, Frühjahr 2011, S. 116-117.