Noch vor 2-3 Jahren waren Regionalkrimis (mehr) in Essen kaum präsent. Im Zuge der Kulturhauptstadt-Aktivitäten 2010 hat sich, wie vieles im Essener Erscheinungsbild, auch das gründlich geändert. Mittlerweile fällt die Wahl in einem Wust von Regionalliteratur nicht nur in Essener Buchhandlungen schwer. Klappentext und Erscheinungsbild ließen mich im Oktober zu Ursula Sternberg und ihrer „Ermittlerin“ Toni Blauvogel greifen.
Gleich zu Beginn ein Hinweis: Es ist nicht zuletzt Tonis Privatleben, das diese Serie so sympathisch macht, die Personen in ihrem Umfeld werden systematisch eingeführt. Die Fälle sind zwar untereinander nicht verbunden, doch in jedem Folgeband finden sich Querverweise auf die früheren. Man brächte sich um manches Vergnügen, läse man die Bände nicht in der Reihenfolge ihres Erscheinens.
In Ruhrschnellweg (assoverlag 2007) hat Toni, die IT-Fachfrau, Mitte 40 und alleinstehend, gerade ihren Job in einer großen Dortmunder Firma verloren, als sie nachts auf der Rückfahrt nach Essen auf dem Ruhrschnellweg eine Leiche findet. Dass es sich dabei um einen ihrer ehemaligen Bosse handelt, wird ihr erst klar, als die Polizei sie am nächsten Tag beim Verhör mit der Nase darauf stößt. Nun hat sie ein doppeltes Problem: Sie muss sich eine neue Einkommensquelle suchen – in einem Geniestreich gründet sie kurz darauf eine Internetbörse für Nachbarschaftshilfe, die sie auch in den Folgebänden weiterführt – und die eigene Unschuld beweisen. Denn sie war es, die mit dem jetzt Toten auf der letzten Betriebsversammlung wegen der unhaltbaren Personalpolitik des Unternehmens arg aneinander geraten war. Toni beginnt zu recherchieren, arbeitet einen Vormittag bei Bertold im Imbiss und trifft Max, den Hacker, der ihr maßgeblich weiterhilft – sowohl dabei, den Firmenserver zu knacken und brisante Dateien zu durchleuchten, als auch privat …
Im zweiten Band, Insolvenzgeld (assoverlag 2009), ist Toni Blauvogel immer noch arbeitslos und leidet unter der Hitze in ihrer Dachwohnung am Isenbergplatz im Essener Südviertel ebenso wie unter der fähnchenschwenkenden Begeisterung der Massen, die sich zu den Spielen in den angesagten Kneipen und Public-Viewing-Arenen nicht nur in ihrem Viertel versammeln: Es ist der „Jahrhundertsommer“ 2006 und „die Welt zu Gast bei Freunden“ zur WM in Deutschland. Bertold, der Inhaber vom Büdchen am Eck, bittet sie um Hilfe, denn seine Ruby, seine neue Liebe, steht unter Mordverdacht. Schöffler, der Insolvenzverwalter ihrer ehemaligen Firma, einem Softwareunternehmen, ist tot, von einem Motorrad bedrängt in den Baldeneysee im Essener Süden gestürzt. Toni mag sich nicht einmischen und ist doch im Handumdrehen mitten im Geschehen. Sie sucht Rubys ehemalige Firma in Oberhausen auf, ebenso die Kanzlei Schöffler am selben Ort, lässt sich von der neuen kulturellen Atmosphäre im Oberhausener Gasometer ebenso gefangennehmen wie von den prächtigen Gewächsen im Gehölzgarten, recherchiert die Motorradszene am Strand des Baldeneysees, der kein See ist, sondern ein Aufstaubecken der Ruhr, läuft in Düsseldorf am Rhein entlang, und tourt – nicht zuletzt wegen der Aussicht auf Abkühlung durch den Fahrtwind – diesmal mit dem Fahrrad durch ihr Essen: Das Südviertel mit ihren Lieblingslocations Click und Süd, Frohnhausen, wo Ruby wohnt, dort schlendert Toni über den Markt und kehrt im Jetzt und Hier an der Mülheimer Straße ein, Holsterhausen, wo Max lebt und zwei Kätzchen aus dem Urlaub mitbringt, weil er weiß, dass er damit Toni zum Umzug in die Nachbarwohnung überreden kann. Im Oberhausener Centro wird sie hingehalten, und immer wieder kehrt sie zum Baldeneysee zurück, dem Tatort. Neben den obligatorischen Autobahnen im Pott kommt nun auch die alte Trasse zu ihrem Recht, die ehemalige Zechenbahnstrecke, die sich quer durch die Stadt zieht und seit fast 20 Jahren als Rad- und Spazierweg dient.
Sternbergs Krimis treten als Regionalkrimis an und bestechen durch das liebevoll eingestreute Lokalkolorit. Für Essener ein Schwelgen in bekannten Regionen, für Neu-Essener oder jene, die nur Zeit für Stippvisiten haben, auf Schritt und Tritt Entdeckungen in sympathischem Neuland. Nicht nur das Click und das Süd dürften beim nächsten Essen-Besuch auf dem Reiseplan stehen, auch für einen Abstecher zum Baldeneysee und womöglich gar nach Oberhausen ist Appetit geweckt.
Im bisher letzten Band Nachtexpress (emons 2010) zieht Toni gleich zu Beginn in die Wohnung neben Max in der Ladenspelder Straße ein, da ereilt sie – auf Empfehlung von Richter Monk (dessen Tochter im zweiten Band Rubys Kopf aus der Schlinge zog) – der Anruf einer verzweifelten Mutter und sie steckt mitten in ihrem dritten Fall und stellt sich nun „offiziell“ als Privatdetektivin vor: Die 15-jährige Bella ist verschwunden. Kein Streit in der Familie, keine heimliche Liebesgeschichte, keine Entführung. Keine Spur. Toni tut sich in Bellas Schule um und gerät aufgrund eines Praktikums, das Bella wenige Monate zuvor bei der Essener Ruhr-Zeitung absolviert hatte, in drei Themenkreise hinein: Neugestaltung des Gelsenzoo (Gelsenkirchen), Umfeld eines alternden Schlagerstars und die Suchthilfe ums Café Basis in der Kastanienallee. Dort erfährt sie von der Alkohol- und Drogenszene am Bahnhof Essen-Steele. Toni findet heraus, dass Bella mit ihren drei Freundinnen gar nicht im Jugendzentrum Rübe war am fraglichen Samstag, sondern in der Szene-Disco Platin in der City. Bald stellt sich eine Verbindung zu Bodo heraus, der an jenem Samstag schwerverletzt in der Nachtexpress-Linie 05 hockte. Er, ein Obdachloser, der in einem Wohnwagen auf einem Biobauernhof in Essen-Eiberg lebte, wurde zusammengetreten und mit Methanol vergiftet. Lasse aus dem Café Basis, Verkäufer der Straßenzeitung FiftyFifty und „wohnhaft“ in der Notunterkunft 58, erzählt Toni von Bodo. Und Theo, der fitte Streetworker, fährt sie im RoadRunner durch die Stadt auf genau der Strecke, die er Nacht für Nacht abklappert. Sie lernt Ecken und Spielplätze kennen, auf denen alkoholisierte Kids randalieren und andere tyrannisieren, und sie erfährt, dass Bella sich offenbar in einen Jungen verliebt hatte, der in diese Szene abgerutscht war …
Auch hier sind zahlreiche Locations und Cafés genannt wie das am Kaiser-Otto-Platz, wie die Weinstube Chat Noir, doch Sternberg macht hier ein ganz anderes Fass auf und greift die Problematik Obdachlosigkeit und Straßenkids auf. Ein Essen-Krimi der besonderen Art. Ein engagiertes Buch, in dem der regionale Aspekt eher ein netter Nebeneffekt ist. Man muss Essen nicht kennen oder gesehen haben, um das Buch mit Gewinn zu lesen.
Durch Tonis persönliche Ich-Erzählung, manchmal schnodderig, manchmal eiskalt präzis, bleibt die Leserin bis zur letzten Seite emotional am Ball. Sternberg widmet ihren zweiten Ruhr-Krimi den „kleinen Essener Buchhandlungen“, die sie „so toll“ unterstützt haben. In Inhalt und Form sprengen ihre Bücher aber spätestens seit dem zweiten Band das Genre des Regionalen, ihre Bücher übersteigen bei weitem das Niveau dessen, was sich größtenteils unter dem Label Regionalkrimi tummelt. Sternberg überzeugt nicht zuletzt durch Recherche zu den aktuellen, über die Region hinaus brisanten Themen. In jedem Band erfährt die Leserin gemeinsam mit der fast unfreiwilligen Ermittlerin Toni Blauvogel ebenso Grundsätzliches wie Detailliertes zum jeweiligen Themenkreis: zu EDV-Systemen und Datenbanken im ersten Band, im zweiten zum Thema Insolvenz und Insolvenzverfahren, im dritten zu Obdachlosigkeit unter Jugendlichen und Hilfseinrichtungen. Ihre sympathischen Charaktere sind dem Leser rasch vertraut, um nicht zu sagen, ans Herz gewachsen.
Jeder Band bietet am Schluss eine überraschende Lösung. Auch in diesem Punkt erfüllen Sternbergs Bücher die Anforderungen an packende Lektüre. Und nach der letzten Seite griffe man am liebsten sogleich zum nächsten Band. Wie geht es weiter mit Toni Blauvogel, Frau Sternberg? Wo steckt sie als Nächstes ihre Nase hinein? Ihre LeserInnen warten auf Fortsetzung – auch außerhalb des Ruhrgebiets.
• Ruhrschnellweg (Oberhausen: assoverlag 2007, 3. Auflage 2010)
• Insolvenzgeld (Oberhausen: assoverlag 2009, 2. Auflage 2010)
• Nachtexpress (Emons-Verlag 2010)
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