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Istanbul – keineswegs nur für Architekten

10. Januar 2010 von Sabine Adatepe

Arch+ 195, Mapping Istanbul

ArchPlus, die Zeitschrift für Architektur und Städtebau, legte anlässlich der Urban Age Konferenz Anfang November 2009 in Istanbul eine Istanbul-Ausgabe vor. Mit Macht drängt es die türkische Architekturszene aus dem jahrzehntelangen Schattendasein auf die internationale Bühne, zunehmende Sichtbarkeit soll nicht zuletzt die Durchführung internationaler Fachtagungen in der Stadt herstellen.

Istanbul wird grün (arch+ Heft 195) bietet ein ebenso buntes wie sachkundiges Panorama der in rasantem Wandel befindlichen Metropolregion am Bosporus: ein historischer Abriss der urbanen Entwicklung; Chancen und Probleme der Gecekondus, einst illegal errichteten informellen Siedlungen, wie auch der Gated Communities, dem pilzartig aus dem Boden schießenden Modell städtischer Festungen; die vielgehassten Müteahhits, private, zudem selbst ernannte Bauunternehmer; Wohnungsbaupolitik à la turca; Probleme in Ausbildung und Berufspraxis türkischer Architekten; Struktur und Wandel öffentlicher Räume; Ansätze zur Lesbarmachung sozialgeografischer Gesichtspunkte anhand von relationalen Karten; ökologische Fragen wie auch neue stadtplanerische Arbeitsweisen, konkret der Parametrismus als neuer internationaler Stil, dazu eine Vielzahl von Fallbeispielen in Zentrum und Peripherie der ausufernden Megalopolis … Grün weist den Essays, Interviews, Berichten als die Farbe des Islam, des Geldes, der Zugänglichkeit, der Natur und der Hoffnung grob die Richtung. Zum Selbstverständnis der Redaktion gehört eine kritische Grundhaltung. Eine Zeitleiste von den byzantinischen Anfängen bis zum Europäischen Kulturhauptstadtjahr 2010 rundet das mit knapp 150 Seiten buchstarke Heft ab.

arch+ 195, Parametrismus

In seinem Beitrag Auf der Suche nach einer zeitgenössischen türkischen Architektur erläutert Ömer Kanıpak, international renommierter Architekt, Gründer des Architekturzentrums „Arkitera“ (2000) und Herausgeber zweier Fachzeitschriften, die mangelnde Präsenz von Architektur in den türkischen Medien und von türkischer Architektur auf internationaler Ebene: In der Türkei selbst werde Architektur nach wie vor „eher als Ingenieurtätigkeit denn als kulturelle Leistung“ verstanden; die Kontrolle des prosperierenden heimischen Bauwesens durch Müteahhits, „private Unternehmer, die sowohl die Aufgaben der Baufirma als auch des Architekten und Investors übernehmen“, behindere massiv die Etablierung qualifizierter, selbstbewusster Architekten und Architekturbüros im Land.

Über eigene Erfahrungen mit den berüchtigten Müteahhits berichtet Hüsnü Yeğenoğlu, Architekt in Amsterdam, in Apartkondu oder warum ich Howard Roark hasse und den Müteahhit liebe. Sein ökonomischer Entwurf für ein 1987 geerbtes Grundstück im Istanbuler Stadtteil Şişli wird von Umständen, Kommissionären und Müteahhits im Laufe von zehn Jahren zu einer Bauruine verhunzt, von den Leuten im Viertel, das in eben diesem Zeitraum von einer informellen Siedlung mit Frei- und Parkflächen zum intensiv bebauten Hochhausquartier mutierte, wegen seiner Monumentalität hämisch „chinesische Mauer“ genannt. Yeğenoğlu, klug genug, sich irgendwann auf das „offene Spiel der Kräfte“ einzulassen, statt auf eigenen Vorstellungen, Entwürfen und Möglichkeiten zu beharren, plädiert zynisch dafür, endlich den „neuen Helden, den korrupten, bauernschlauen Müteahhits“ ein Denkmal zu setzen: „Sie bauen Istanbul.“

arch+ 195, Yegenoglu

Warum die Regierungspartei AKP bei den letzten Kommunalwahlen in einigen Istanbuler Stadtteilen massiv an Stimmen verlor, erklären Ulus Atayurt und Ayşe Çavdar in Die Gecekondus als politische Bewährungsprobe: Von der Armutsrhetorik zur Abrisswirtschaft frappierend: Nicht aus ideologischen Gründen wanderten die WählerInnen ab, „sondern aus Sorge vor dem Abriss ihres Stadtquartiers.“ Denn im Zuge des aktuellen Stadtumbaus wurden bereits über 9000 illegale Bauten abgerissen, um zeitgemäßen urbanen Projekten Raum zu geben. Informelle Siedlungen, Gecekondu (wörtlich: „über Nacht gebaut“, nach der überkommenen Regelung, ein Bau, der bis zum Morgen ein Dach habe, dürfe nicht abgerissen werden), entstanden seit den 1950er Jahren in allen türkischen Großstädten im Zuge der Landflucht, die einsetzte, als unter dem Einfluss des Marshallplans monokulturelle Agrarwirtschaft gefördert wurde statt landwirtschaftlicher Kleinbetriebe. Die Stadtbevölkerung explodierte, der Staat duldete stillschweigend die illegale Bautätigkeit, teilweise sogar auf privatem Grund. Abrisse waren die Ausnahme. Im Laufe der Jahre wurden Gecekondu-Viertel mal mehr mal weniger legal infrastrukturell erschlossen, in den 1970er Jahren im Zuge der starken Arbeiterbewegungen mutierten manche gar zu sozialistischen „Mustervierteln“: „Jeder Familie ein Gecekondu, gerechte Aufteilung der Grundstücke in Abhängigkeit vom jeweiligen Wohnraumbedarf, Entwicklung gesunder Häuser unter Miteinbeziehung linksgerichteter Architekten und Ingenieure, Angleichung  der Beiträge für Gemeinschaftsausgaben und –gebäude.“ Nach dem Militärputsch von 1980 setzte dann parallel zu verstärkter Kontrolle der Gecekondu-Viertel ein Transformationsprozess ein: 1984 erließ Ministerpräsident Özal eine Amnestie, die vormals vernachlässigten bzw. sich selbst überlassenen Quartiere wandelten sich in Rendite-Gebiete. 1984 ist auch das Gründungsjahr von TOKI, der staatlichen Wohnbaubehörde. Sollten zunächst Wohnbaukooperativen unterstützt werden, wurde die Behörde zusehends zum Monopolbetrieb, der heute quasi den Immobilienmarkt des Landes kontrolliert (ausführliche Einzeldarstellungen auch zu diesem Thema finden sich im Heft). Manchen Gecekondu-Erbauern war es gelungen, vom mittellosen Zuwanderer auf illegalem Grund zum Appartement-Besitzer aufzusteigen. „Die politischen Grenzziehungen“, heißt es konsequenterweise in der Rückschau auf die Kommunalwahl vom März 2009, „verlaufen in den Städten parallel zu eigentumsrechtlichen Verteilungsfragen, die sich zur Zeit im Umbruch befinden.“

arch+ 195, Urban Ecopolis

Im Umbruch befinden sich seit Jahrzehnten schon die öffentlichen Räume, die angesichts des nicht nachlassenden Bevölkerungszuwachses, Istanbul hat mittlerweile offiziell 12 Mio. Einwohner, nicht nur knapper werden, sondern zunehmend Umwidmung erfahren. Deniz Güner, Dozent in Izmir und Herausgeber des Architekturführers „Izmir 2005“, geht in seinem Beitrag Wandel der Öffentlichkeit soweit, von Istanbul als einer „Stadt der privaten Küsten“ zu sprechen. Durch eine Vielzahl von Umwandlungs- und Revitalisierungsprojekten stehen die ohnehin begrenzten öffentlichen Räume an den Küstenzonen unter starkem ökonomischem Druck, so dass Parks und Plätze „Stück für Stück ihren öffentlichen Charakter verlieren“. Güner verweist allerdings darauf, dass der Kampf zwischen öffentlichem und privatem Raum keinesfalls neu sei, vielmehr sei er „das Produkt einer Mentalität, die durch seit Jahrhunderten übliche soziale Praktiken im Zusammenhang mit Zugehörigkeits- und Hoheitsgebieten entstand“. Straßen und Plätze wurden seit jeher als „Reserven betrachtet, die sich dem privaten Raum angliedern ließen“ (Güner zitiert Uğur Tanyeli). Um seine These zu untermauern und zugleich den Unterschied der Konzepte von Öffentlichkeit und Privatem in Europa und der Türkei aufzuzeigen, zieht Güner das Beispiel des in der türkischen Gesellschaft traditionell beliebten Picknicks heran (man denke an Konflikte auf Grünflächen auch in mancher deutschen Großstadt in den frühen Jahren der Arbeitsmigration): „Jedes Picknick hat ein territoriales Zentrum. [Dass es sich dabei konkret um eine Wolldecke o.ä. handelt, fiel leider der redaktionellen Bearbeitung des Artikels zum Opfer.] Von ihm aus wird der Raum durch das Knüpfen von Handlungs- und Beziehungsnetzen in Besitz genommen … Damit die Teilnehmer des Picknicks an der Straße ‚imaginäre Häuser’ bauen und dort ein Gefühl des ‚Wir sind unter uns’ schaffen können, müssen sie sich als ‚unsichtbare Masse’ betrachten …“ In Europa basiere die Unterscheidung von öffentlicher und privater Sphäre auf Sichtbarkeit, auf Städte multipler Identitäten wie Istanbul jedoch sei dieses Raumkonzept nicht anwendbar. Für einen adäquaten Diskurs über Istanbul müssten zunächst „Begriffe für eine außerwestliche Moderne gebildet“ werden.

Das mag auch auf die in Istanbul – wie auch manch anderen Millionenstädten weltweit – zur bevorzugten Wohnform der Eliten avancierenden Gated Communities zutreffen. Festung Istanbul. Gated Communities und die sozio-urbane Transformation der Stadt hat Tim Rieniets vom Urban Research Studio an der ETH Zürich seinen Beitrag über die Ausbreitung geschlossener Wohnkomplexe in Istanbul überschrieben (zuvor erschienen in Public Istanbul. Spaces and Spheres of the Urban, Bielefeld 2008). Von den Motiven, die Menschen zum Entschluss für „ein Leben hinter Mauern“ veranlassen – „das Bedürfnis nach Sicherheit, sozialer Homogenität, gehobenem Lebensstandard und gesellschaftlichem Status“ – bis zu einer erstaunlichen Wechselwirkung im sozialen Leben von Stadtteilen, in denen solche „Festungen“ entstehen, reicht sein Fokus. In Istanbul wird mittlerweile „fast jedes“ neue Wohnbauprojekt in Form von Gated Communities geplant, in der Öffentlichkeit finde jedoch noch kein Diskurs darüber statt. Diese neue Wohnform sei nicht nur „Ausdruck für Wohlstand und westlichen Lebensstil“, sondern zugleich ein „Gegenentwurf zur alten und informellen Stadt“. Begegnungen zwischen den ursprünglichen Ortsansässigen und den Community-Bewohnern finden keineswegs im öffentlichen Raum und zufällig statt, sondern im Rahmen eines „hierarchischen Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Verhältnisses“: Durch die neuen Wohnkomplexe wächst der Bedarf für den Service-Sektor, gedeckt wird er durch die einem niedrigeren Bildungs- und Lohnsektor angehörende Lokalbevölkerung in Form von Gärtnern, Hausmeistern, Kindermädchen und Sicherheitsbediensteten. Hier finde statt, was als eine Folge von Globalisierungsprozesse längst erkannt sei: die „ungeplante räumlich-ökonomische Symbiose“, die „räumliche Konzentration von Arm und Reich“, die „Entstehung neuer, sozialer, ökonomischer und räumlicher Muster auf lokalem Maßstab“. Soziale Segregation pur? Keineswegs, meint Rieniets: „Die sozialen und wirtschaftlichen Disparitäten bieten beiden Seiten relative Vorteile“: Arbeitskräfte für Dienstleistungen für die Elite, Verdienstmöglichkeiten für die „Dorfbewohner“, die wiederum die Möglichkeit erhalten, in ihr eigenes Lebensumfeld zu investieren und es damit aufzuwerten. Für Istanbul vermerkt Rieniets eine „politisch gewollte“ Transformation zu einem „Dienstleistungszentrum von internationaler Bedeutung“ parallel zur großräumigen Erneuerung erdbebengefährdeter Gebiete. Es werde Inseln geben, an denen beide Seiten von den neuen Exklusivkonzepten profitieren, an anderer Stelle aber werden Bewohner weichen müssen, was Anlass zur Sorge gebe: Hier sei Istanbuls in den vergangenen Jahrzehnten bewiesene „große Fähigkeit zur Integration“ gefährdet.

Was könnte spannender sein, als die Entwicklung einer Metropole aus erster Hand und eigener Anschauung mitzuerleben? Vor der nächsten Istanbul-Reise sei jedem, der die „europäische Kulturhauptstadt 2010“ über den touristisch begrenzten Fokus hinaus kennenlernen möchte, empfohlen, arch+ Nr. 195 zur Hand zu nehmen, darin zu blättern, an Skizzen, Plänen, Bildern hängen zu bleiben und sich immer wieder festzulesen. Im gut sortierten Zeitschriftenhandel steht das Heft noch im Regal und ist ansonsten beim Verlag zu beziehen, auf der Website stehen einige Artikel zum Download bereit.

„Istanbul wird grün“ ARCH+ 195, November 2009, ISSN 0587-3452

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