Souvenirs von einer Reise mit nach Hause zu nehmen, ist ein weit verbreiteter Brauch. Noch wochenlang kann so ein kleines Erinnerungsstück im heimischen Alltag das Flair von Urlaub und fremden Orten verströmen. Meist kommen zu dem Stück selbst noch Ort, Atmosphäre und Umstände, unter denen es erworben wurde.
Nimmt der eine auch Musik mit, greift ein anderer nach Büchern. Beides darf als dynamisch gelten, weist es doch über sich selbst ebenso hinaus wie über den besuchten Ort. Während Musik selten allein den konkreten Ort betrifft und erst im Zusammenklang mit einer bestimmten Erinnerung einen Raum, eine Atmosphäre oder Begebenheit zum Klingen bringt, kann ein Buch direkt, ja, eng fokussiert sein. Das ist Sinn und Zweck eines Großteils von Regionalliteratur, wie sie mancherorts mittlerweile Regalmeter einnimmt. Davor drängeln sich neben wenigen Reisenden in erster Linie Ortsansässige, die nach dem neuesten Band „ihrer Autorin“ schauen, gepriesen von Lokalsender bis Lokalblatt und beworben mit gut besuchten Lesungen vor Ort.
Als Reisende/r findet man diese Regionalliteratur in Buchhandlungen nahe dem Eingangsbereich neben Stadt- und Wanderplänen, Mundartlexika, regionalen Schwänken, Bildbänden, Kirchen- und literarischen Stadtführern. Krimis, historische wie aktuelle, je nach Region unterschiedlich gewichtet, führen die Liste an. Auch Liebes- oder Frauenromane finden sich hier und da. Meist zudem Bände mit Memoiren oder Biografien lokaler Persönlichkeiten. Auch letztere können spannende Lektüre bieten, hier soll es aber um Belletristik gehen.
In Freiburg entschied ich mich 2004 für Astrid Fritz’ Hexe von Freiburg und bekam erst dadurch tieferes Verständnis für die Kämpfe um die religiöse Eigenständigkeit der im katholischen Umfeld gelegenen Stadt, die Ort und EinwohnerInnen bis heute prägt. Fritz gelang mit dem auf historischen Tatsachen basierenden Krimi über das Schicksal einer Frau ein solcher Erfolg, dass mehrere Anschlussbände folgten, die sicher meiner Aufmerksamkeit entgangen wären, hätte ich nicht den ersten Band damals als Regionalliteratur vor Ort erworben und in schlafloser Nacht im Hotel zu lesen begonnen. Astrid Fritz ist insofern eine Ausnahmeerscheinung, als sie nicht nur höchst spannend und lesbar und zudem historisch fundiert schreibt, sondern auf Anhieb den Sprung in einen renommierten Großverlag und den bundesweiten Literaturbetrieb schaffte.
Auch das jüngste Beispiel, aus Stuttgart, Elisabeth Kabateks Laugenweckle zum Frühstück aus dem schwäbischen Regionalverlag Silberburg, ist Kandidat für einen größeren Durchbruch. Kabatek legt mit ihrer spritzigen Humoreske einen flotten „Freche-Frauen-Roman“ vor, auf erstaunlich hohem Niveau. Zudem weiht sie ihre Leserinnen in Stuttgarter Lokalverhältnisse ein: Was unterscheidet den Westen vom Osten, wo liegen Szenekneipen und innerstädtische Partymeile, warum wird ein gewisses Stuttgarter Wohngebiet ironisch als „Engeleinflugschneise“ bezeichnet, was hat es mit dem Kehrwochenexamen für Zugezogene auf sich, pardon, für Rei’gschmeckte … Für die Normalreisende mit Hotelaufenthalt öffnen sich Türen in eine Region, von denen sie nie etwas ahnte. Selbst das schwäbische Nachsilble gewinnt durch den Band erheblich an Sympathie.
Dass Leon, der nette Nachbar von Kabateks Stuttgarter Ich-Erzählerin Line, sich ausgerechnet als Hamburger Ingenieur entpuppt, erfuhr ich auf der 5-stündigen Rückfahrt von Stuttgart nach Hamburg. Solcherlei „Zufälle“ ergeben sich eben. So hatte ich aus Berlin einen Krimi von Felix Huby mitgenommen, den ersten Fall von Ermittler Peter Heiland. Der war gerade von der Schwäbischen Alp nach Berlin versetzt worden. Dass eine meiner nächsten Reisen wiederum mich ins Schwabenländle führen würde, hatte ich justament erfahren.
In Bamberg verdoppelte ich den Regio-Effekt und nahm Zwischentief an der Regnitz aus dem örtlichen Collibri-Verlag mit, und zwar in der Buchhandlung Collibri in der Austraße. Da musste die Kassiererin dann auch gleich noch einen Firmenstempel vorn ins Buch drücken. Regio-Effekt hoch drei. Gegenüber im Regionalregal einer Buchhandlungskette bestand die Wahl zwischen diversen Krimis, historisch wie aktuell, natürlich lag dort auch das Bamberg-Quiz aus. Eine schöne Idee, vielerorts anzutreffen, aber für den durch- und alleinreisenden, nur wenige Stunden oder Tage verweilenden Gast meist doch zu speziell. Und wieder hatte ich es im gewählten Regionalband – der nur insofern Anklänge an einen Krimi hat, als ein Richter die Hauptrolle spielt – mit einem Zugereisten zu tun, diesmal aus München. Er quält sich im Bamberger Amt, kämpft mit Kleinstadtgepflogenheiten und omnipräsentem Katholizismus.
In Konstanz griff ich einen „Bodensee-Krimi“ und hatte unvermutet einen Umweltthriller in der Hand, der weit über die Region hinaus lesbar wäre, disqualifizierte er sich nicht durch streckenweise latent xenophobe Anklänge. Die Reihe Bodensee-Krimis ist eine von vielen, die gleich eine ganze Region abdecken, da hat man dann die Qual der Wahl: Welcher Band konzentriert sich auf den Ort, an dem man gerade ist? Oder mag man doch lieber gleich übergreifend agierenden Helden und Verbrechern folgen, nur um zu erfahren, dass das Weinlokal im Nachbarort viel angesagter ist und man auch noch die Aussichtsterrasse im nächsten Badeort verpasst hat?
In Bern fiel die Wahl auf Friedrich Glauser. Die Reise von Stadt zu Stadt in der deutschsprachigen Schweiz war zu rasant, bot zu wenig Oasen, um sich in Zürich, Basel, Winterthur u.a. jeweils einzeln nach geeigneter Lektüre umzusehen. Glausers Wachtmeister Studer bot da das rechte Maß – zeitlicher, räumlicher und atmosphärischer – Distanz und Ruhe, und ist doch mitten aus dem Schweizer Leben gegriffen, wie ständige Neuauflagen der Bücher des bereits 1938 verstorbenen eigenwilligen Autors beweisen.
Im nichtdeutschsprachigen Ausland gibt es die Möglichkeit, englisch- oder lokalsprachige Regionallektüre zu erwerben oder aber im Voraus oder Nachhinein sich nach Übersetzungen umzuschauen. Oslo erlebte so ein Nachwirken als Drehscheibe internationaler organisierter Kriminalität in Jon Ewos Krimi Torpedo. Nur wenige Tage vor der Lektüre war ich durch Grønland gelaufen, ohne zu ahnen, was sich hinter manchen Fassaden abspielt. Als Multikulti-Kiez outet sich das Viertel allerdings auch ohne vertiefte Interna-Kenntnisse.
Mancher Band Regionalliteratur verführte schon dazu, sich im Nachhinein eingehender mit einzelnen Aspekten der örtlichen Geschichte, Politik oder soziokulturellen Umgebung zu beschäftigen. So wurde in Münster durch den historischen Krimi Der Tote im Friedenssaal das Motto der Stadt als „Friedensstadt“ lebendig. Hier wurde 1648 der westfälische Friede unterzeichnet. Autor Jürgen Kehrer macht, trotz literarischer Schwächen, mit zeitgenössischen Personen aus den damals in Münster tagenden Delegationen wie auch der einheimischer Bevölkerung Geschichte anschaulich. Er hat kein Geschichtsbuch geschrieben, zum Glück; den historischen Hintergrund nachzuschlagen, bleibt der Leserin Option.
Noch ein Wort zu den AutorInnen: Es sind keineswegs immer Redakteurinnnen der Lokalzeitung oder pensionierte Studienräte vom Orte, die sich an das Vorhaben Regionalroman machen. Nein, gestandene Krimiautoren, selbst Tatort-Drehbuchautoren, Juristen, Philologen, bekannte SchriftstellerInnen, die unter Pseudonym auch lokal zur Tat schreiten, ehemalige Patienten der Psychiatrie oder vormals Drogenabhängige, Zugezogene oder auch nur zum Zweck des Abfassens eines ebensolchen Buches vorübergehend Residierende oder Recherchierende, sie alle tragen dazu bei, das Genre bunt und immer wieder überraschend zu machen. Enttäuschungen sind die Ausnahme. Vor allem dann, wenn die Leserin bereit ist, über literarische Defizite zugunsten des Lokalkolorits hinwegzulesen.
Gerade bei kurzen Reisen, beruflich oder privat, an einen wenig oder gar nicht bekannten Ort, wo zum Kennenlernen die Zeit nicht reicht, durch Begegnungen aber doch ein erster Kontakt zur Region bzw. zu den Menschen der Region entsteht, ist Regionalliteratur in der Lage, flüchtige Beziehungen zu vertiefen, auf jeden Fall aber die Reise zu verlängern und angemessen ausklingen zu lassen. (Es soll auch „Banausen“ geben, die Regionalliteratur im Voraus per Versand bestellen, zur Reisevorbereitung, nun, jedem das Seine …)
Es gibt sie überall, die Romane mit Lokalkolorit, fast überall. In Essen suchte ich vergeblich. Dabei schreit eine Location wie die alte Zeche Zollverein doch geradezu nach einem dort verorteten Krimi! So wie Ulrich Koehler den unsäglichen NS-Komplex in Prora/Rügen für einen Thriller ersten Grades aufgriff und moderne Gentechnologie-Problematik mit dem geschichtsträchtigen Ungetüm verknüpfte. Kann es daran liegen, dass die Essener erst jüngst beginnen, sich positiv mit ihrem lokalen Lebensmittelpunkt zu identifizieren? So die Anregung der jungen Autorin und Ruhrgebietkennerin Fatma Uzun. Damit wäre auch erklärt, warum an Orten wie Hamburg etwa Regionalliteratur durch alle Genres und Erzählzeiten boomt.
Hier vor Ort aber kommt mich kaum die Lust an, Regionallektüre zu wählen. Hier bin ich zu Hause und kann täglich durch die Quartiere laufen und den Menschen begegnen, die diese Bücher transportieren. Sollte ich aber wieder einmal längere Zeit andernorts hausen, griffe ich vermutlich gern zu Hamburger Regionalia. Der nächste Regionalband von der nächsten Reise aber wird mir zuverlässig die Rückfahrt verkürzen, den Reiseeindruck um Tage verlängern und mit Glück unvermutete Einblicke in Land und Leute gewähren.
Erwähnte Regionalliteratur:
Bamberg: Hans Neubauer, Zwischentief an der Regnitz (Bamberg 1995)
Bamberg: Nevfel Cumart, Bamberg-Quiz (Düsseldorf 2008)
Berlin: Felix Huby, Der Heckenschütze (Frankfurt 2005)
Bern: Friedrich Glauser, Schlumpf Erwin Mord (Zürich 1995-2005)
Freiburg: Astrid Fritz, Die Hexe von Freiburg (Reinbek 2003)
Konstanz: Manfred Megerle, Seehaie (Köln 2008)
Münster: Jürgen Kehrer, Tod im Friedenssaal (Münster u.a. 1997)
Oslo: Jon Ewo, Torpedo, aus d. Norwegischen v. Christel Hildebrandt (Zürich 2000)
Rügen: Ulrich Koehler, Der Fluch der Gene. Auf Rügen vermisst. (Frankfurt 2002)
Stuttgart: Elisabeth Kabatek, Laugenweckle zum Frühstück (Tübingen 2008)