Mit einem Abend im Rahmen des 5. Literatürk-Festivals in Essen ging am 28. Oktober 2009 die musikalisch-literarische Reihe „horizonte, flammen und lieder – türkische Kult- und Lieblingsgedichte“ zu Ende. Insgesamt fünf Veranstaltungen führten uns von Mai bis Oktober 2009 von Hamburg über Lübeck und Münster nach Essen. Mit der Reihe wurde der im Herbst 2008 im Züricher Unionsverlag in der Reihe Türkische Bibliothek erschienene Band Kultgedichte / Kült Şiirleri vorgestellt.
Die Herausgeber Erika Glassen und Turgay Fişekçi hatten zahlreiche Persönlichkeiten aus der türkischen Kulturszene gebeten, ihr Lieblingsgedicht bzw. eines zu benennen, das ihrer Meinung nach Kultstatus habe, und ihre Auswahl in einem kurzen Essay zu begründen. Heraus kam eine höchst subjektive Sammlung von 42 Gedichten – zweisprachig türkisch-deutsch abgedruckt – und 42 kurzen Essays. „Weder sind die Befragten repräsentativ für die türkische Gesellschaft, noch die ausgewählten Gedichte für die türkische Poesie“, schreibt Erika Glassen in ihrem Vorwort, das selbst nicht nur einen Einblick in das poetische Schaffen in der Türkei gibt, sondern zugleich einen wunderbar lyrischen Ausblick auf die Texte, die den geneigten Leser in diesem besonderen Band erwarten. Die Stimmung des Bandes ist geprägt vom berühmten hüzün, der besonderen türkischen Spielart der Melancholie. Er bietet einen einzigartigen Einblick in Befindlichkeiten und Lebensgefühl der türkischen Gesellschaft.

Demir Gökgöl u. Rüdiger Zietz 5.6.9 in Hamburg
Neun Gedichte (von Kemal Özer über Bejan Matur bis Refik Durbaş) wählten wir für unsere Lesereihe aus, rezitiert von Demir Gökgöl auf den beiden Hamburger Veranstaltungen und von Gülseren Doğaner in Lübeck, Münster und Essen.
Neben Ausschnitten aus den aufschlussreichen und sehr persönlichen Essays bot der Abend zudem einen Überblick über die Entwicklung der türkischen Lyrik sowie eine kurze Einführung in die Reihe Türkische Bibliothek. Rüdiger Zietz rundete mit seiner Flamenco-Gitarre den Abend ab und begleitete zudem die Rezitatoren höchst einfühlsam bei der Lesung der deutschen Gedicht-Texte. Überall ernteten wir begeisterten Applaus.
Türkische Literatur ist beileibe kein Selbstgänger
Die Akquise allerdings war schwierig. Viele deutsche Veranstalter wollten sich nicht auf das „Wagnis türkische Literatur“ einlassen. Der eine hatte „schon eine türkische Veranstaltung in diesem Jahr“, der andere wollte uns gleich in die Räume der lokalen Türkischen Gemeinde verlagern und hätte dann der Form halber einen Mitarbeiter vorbeigeschickt. Von manchen erhielten wir gar nicht erst eine Rückmeldung. Die Reihe war veranstaltet vom Hamburger Kulturzentrum Werkstatt 3 und gefördert von der Robert Bosch Stiftung und fast überall von mehreren Kooperationspartnern (darunter selbstverständlich auch die Türkische Gemeinde) mitgetragen. In Lübeck, Münster und Essen fanden die Veranstaltungen im Rahmen von Festivals statt und waren größtenteils über Erwarten gut besucht.
In einem Interview von Radio Kaktus e.V. Münster wurde ich gefragt, ob es so etwas wie ein Aha-Erlebnis gebe. Aber ja! Wer erst einmal den Weg zu uns gefunden hat, ist durchweg begeistert und angeregt, sich weiter auf türkische Literatur und Lyrik einzulassen. Das Problem liegt jedoch darin, VeranstalterInnen und sachfremdes Publikum überhaupt erst zu interessieren.
Es ist nichts Neues, dass nach einem Ehrengastauftritt auf der Frankfurter Buchmesse das zu diesem Anlass gleißend aufgeflammte Interesse an einer Literatur eklatant wegbricht. So erwies sich auch die massive Publikationstätigkeit türkischer Literatur ab Spätherbst 2008 als Strohfeuer, das Funken nur in zwei Richtungen sprüht: Im vergangenen Jahr haben vereinzelt LeserInnen und VeranstalterInnen Feuer gefangen und wagen sich experimentehalber doch noch einmal an ein türkisches Thema. Ansonsten sind es die bewährten Veranstalter und das Stammpublikum, die weiter – relativ einsam auf weiter Flur – die Fahne hochhalten. Während mit der Türkischen Bibliothek im Zeitraum 2005-2010 erstmals eine nachhaltige, umfangreiche Förderung der Übersetzung und Vermittlung von türkischer Literatur im deutschen Sprachraum aufgelegt wurde, bleibt die Vermittlung an der „Rezipientenfront“ – dazu gehören neue LeserInnen, vor allem aber VeranstalterInnen als Multiplikatoren – ein Kampf. Trotz mancher Rückschläge macht das begeisterte Feedback nach jeder einzelnen Veranstaltung aber doch Mut, Schritt um Schritt weiter voranzuschreiten. Wir freuen uns auf die Schlangenkönigin 2010 …