Parallel zur Ausstellung Istanbul Next Wave (Berlin) erschien im November 2009 ein bemerkenswerter, bislang zu wenig beachteter Band mit Interviews und Essays zu Positionen zeitgenössischer KünstlerInnen aus der Türkei. Literatur, Film und bildende Kunst sind in etwa gleich gewichtet, ein Exkurs beleuchtet auch die aktuelle Musikszene. Die HerausgeberInnen Claudia Hahn-Raabe, Leiterin des Istanbuler Goethe-Instituts, und Johannes Odenthal, Programmbeauftragter der Akademie der Künste Berlin, konstatieren in ihrem Vorwort eine „hochkomplexe gesellschaftspolitische und kulturelle Gemengelage“ in der Türkei, auf die die zeitgenössische Kunstszene reagiere. Die Schriftsteller und Künstler seien es, die den gegenwärtigen Entwicklungsprozess in der Türkei „am deutlichsten formulieren und beschreiben“. Der Band will die „Komplexität der aktuellen Situation“ einfangen und bietet eine Bestandsaufnahme von 2008/2009, wobei bewusst unterschiedlichen Positionen jüngerer und älterer aber sämtlichst etablierter KünstlerInnen Raum gegeben wurde. Triebkraft der Gegenwartskunst insgesamt sei die „Kritik an der gesellschaftspolitischen Situation in der Türkei“.
Außerordentliche Lebendigkeit und Authentizität gewinnt der Band durch die Form des Gesprächs bzw. Interviews, zum Interview baten zudem ausgewiesene Experten der jeweiligen Sparte. Je nach persönlicher Präferenz des Interviewers reichen die Beiträge von künstlerischer Fachsimpelei über politisch brisante Analysen bis hin zur Reportage.
Der Doyen der türkischen Literatur, Yaşar Kemal, spricht im Interview mit Osman Okkan über seine Vorbilder, über sein Verhältnis zur Sprache und hält ein Plädoyer für eine dringende friedliche Lösung des Kurdenkonflikts. „Sprache wird durch Literatur geprägt – und umgekehrt“, meint er und: „Literatur ist eine Waffe, die empfindlich treffen kann.“
Die junge Romanautorin Şebnem İşigüzel, mit ihrem sozialkritischen Roman Am Rand eine der literarischen Entdeckungen im Zuge des Publikationswelle zum Ehrengastauftritt Türkei auf der Frankfurter Buchmesse 2008, bekennt, den Blick nach Westen gerichtet zu haben, auch wenn hinter ihr die Tradition des Ostens stehe. „Ich empfinde mich selbst und meine Romane nicht als zwischen Ost und West eingezwängt – ich sehe mich so, als seien mir genau an dieser Stelle Flügel gewachsen. Der Wind, der mir unter die Flügel fährt, kommt aus dem Osten, aber mein Flug führt mich in den Westen, und darüber hinaus in die ganze Welt. Der Westen bedeutet Freiheit und Ruhe. Der Osten ist wie das, was Auslöser meines Schreibens ist: Verschlossen, in sich gekehrt, dunkel, voller Geheimnisse, einsam, still und mystisch. Beim Schreiben scheint meine Welt eine östliche zu sein. Der Westen jedoch ermöglicht es mir, meine Romane überhaupt zu schreiben.“
Auch der Kultautor Murathan Mungan meint: „Unsere Position liegt im Osten“, ergänzt jedoch, Raum und Kultur seien bloß Instrumente der Existenz, „wir müssen sie der Welt in positivem Sinne vermitteln.“ Angezogen fühle er sich von „Heimatlosigkeit“ und plädiert zugleich dafür, „gute Weltbürger“ zu sein.
Elif Şafak, die sich einen Namen mit in der Mystik wurzelnden Romanen gemacht hat, nutzt zur Positionierung die Metapher des Zirkels, dessen einer Fuß fest an einem Ort stehe, während der andere Kreise ziehe: „Meine Literatur ist mit dem einen Fuß lokal, mit dem anderen universell.“ Im Interview mit dem Kulturjournalisten Cem Erciyes bezeichnet sie die Türkei als ein „kompliziertes, dynamisches Land, das man nicht so leicht in Kategorien pressen“ könne und in dem manchmal vergessen werde, dass „Kunst und Literatur autonome Felder“ sind. Man befinde sich in einem „Zeitalter des Fließenden und der Übergänge.“ Der türkische Literaturbetrieb sei „nicht schriftfokussiert, sondern schriftstellerfokussiert“ und ein Schriftsteller eine öffentliche Figur. Während die Sprache der Politik trenne, führe die Sprache der Literatur die Menschen zueinander.
Die Literaturkritikerin Berat Günçıkan führt mit Autor Mario Levi, dem mit Istanbul war ein Märchen 2008 der Durchbruch auch auf dem deutschsprachigen Markt gelang, ein stark politisch motiviertes Gespräch über Minderheiten und gesellschaftliche Befindlichkeiten. Levi, der sich in erster Linie als Istanbuler begreift, hält Selbstzensur für einen der gefährlichsten Aspekte. „Wir brauchen mehr Mut“, fordert er und meint, aus Glück könne keine Literatur entstehen.
Der Filmemacher Semih Kaplanoğlu, dessen melancholischer Film Süt (Milch), Teil 2 seiner Yusuf-Trilogie, jüngst in deutschen Kinos lief, postuliert eine unmittelbare Verbindung zur Spiritualität (nicht nur) in der Filmkunst. Die klassische Filmvorführsituation habe etwas von einer religiösen Zeremonie. Was Religion und Film verbinde, sei der Aspekt der Zeit. So nimmt es nicht Wunder, dass ein Fokus seiner Arbeit stets auf dem Aspekt Zeit liegt: „Zeit erinnert uns unweigerlich daran, dass wir sie ständig verlieren, erinnert uns also an den Tod.“ Kaplanoğlu, der sein Filmschaffen im Rahmen eines „spirituellen Realismus“ sieht, glaubt nicht an Unterschiede nach Nationalität oder Religion, selbst „Ungläubige“ hätten Zugang zu „spiritueller Wahrheit“.
Im Gegensatz zu dem eher stillen und das Heil ganz in der Spiritualität suchenden Kaplanoğlu zeigt die Regisseurin Yeşim Ustaoğlu sich kämpferisch. Sie kämpft, ausdrücklich ohne feministischen Anspruch, gegen machistische Sichtweisen und setzt auf Veränderung, wobei sie im Kleinen bzw. konkret im Lokalen ihren Ansatzpunkt sieht. Sie hat längst reüssiert und äußert doch, ihr ginge es darum, „als Frau den Mut zu finden, sich frei zu äußern.“
Der etablierte Filmemacher Reha Erdem zieht es vor, seine Filme „nicht in der Aktualität zu verorten.“ Ihre eigene Zeit sollten sie haben wie auch ihre eigenen Räume. Bei all seinen Filmen stehe das Gefühl, „eingeengt zu sein“, im Vordergrund.
Kutluğ Ataman, der seit Jahren in London lebt, was der Filmkritiker Engin Ertan in seinem Porträt unterschlägt, ist durch seine Videoarbeiten und Installationen mindestens so bekannt wie durch seine Filme. Ihm geht es um Tabubrüche in der Genderfrage. So folgt Ruhuma Asla / Never my Soul der in der Schweiz lebenden Transvestitin Ceyhan Fırat und der in Berlin gedrehte Spielfilm Lola + Bilidikid zeigt türkischstämmige Transsexuelle in ihrer Zerrissenheit zwischen Kulturen und Identitäten. Ataman hinterfrage die „Wahrnehmung der Realität durch das Publikum“, formuliert Ertan und erläutert, der türkische Film gründe seinen Dialog mit dem Publikum in erster Linie auf Realismus. Gleiches lässt sich im Übrigen auch für die Literatur sagen, fragt doch nach wie vor ein Großteil der türkischen Leserschaft zuvörderst, ob und inwieweit ein literarischer Plot der Realität entspreche.
Für den großen Nuri Bilge Ceylan, der nicht nur als Filmemacher (u.a. Uzak/Fern), sondern zudem als Fotograf bekannt ist und sich der Öffentlichkeit entzieht, je größeren Erfolg er zeitigt, ist Kino ein Weg, „der Einsamkeit zu entrinnen.“ Die Kunst bietet ihm „einen Raum, in dem ich die Freiheit besitze, mir keiner Sache sicher zu sein.“ Filmemachen ist für Ceylan wie Briefeschreiben an verwandte Seelen.
In ihrem Beitrag zur aktuellen Musikszene referiert Yeşim Tabak die Entwicklung des Musikmarkts in den 1990ern parallel zur Eröffnung privater Sender und stellt insbesondere das Label Kalan Müzik von Hasan Saltık in den Mittelpunkt, das zugleich eine wichtige Archivfunktion für den breiten Fächer musikalischer Stilrichtungen in der Türkei innehabe.
Den letzten, umfangreichsten Abschnitt bilden Gespräche mit acht bildenden KünstlerInnen. In ihrer gemeinsamen Weigerung, sich auf eine Stilrichtung festlegen zu lassen, verleihen sie dem in der Türkei seit Ende der 1980er Jahre vorherrschenden Individualismus Ausdruck.
Şükran Moral, die sich in zahlreichen künstlerischen Bereichen ausprobierte, geht es nicht darum, dem Publikum zu gefallen. „Ich möchte es konfrontieren mit den harten Realitäten außerhalb der ästhetischen Rezeption.“ Aufrütteln möchte sie, wozu sie mit Videos und Installationen Grenzsituationen am laufenden Band produziert. Ihre Kunst sei aus Wut und Zorn entstanden und für sie die „konsequenteste Form, politisch Position zu beziehen.“
Auch der aus Mardin stammende Halil Altındere, der sich gegen eine Reduzierung auf seine ethnische Herkunft verwahrt, ist ein politischer Künstler. Allerdings lässt er sich nicht für politische Zwecke in ein Korsett zwängen. Der [bildenden] Kunst fehle leider die nötige Kraft, um die Gesellschaft zu ändern, meint er. Film und Musik seien da effektiver. Als er in den 1990ern aus der Peripherie nach Istanbul kam, musste er feststellen, dass eine fundierte Diskussion über Gegenwartskunst hier im Zentrum fehlte. Nicht nur dies veranlasste ihn, als Plattform für aktuelle Kunst die Zeitschrift art-ist zu gründen. „Unser Anliegen war es, die Menschen zu einem neuen Denken anzuregen und sie zu veranlassen, die eigene Geschichte kritisch zu betrachten.“ Die Individualisierung betrachtet Altındere allerdings als Verlust, da der Markt nun zu stark von Institutionen gelenkt werde, deren Diktat sich die Einzelnen vielfach beugten.
Von Altındere stammt auch das Titelbild des Bandes: Die Wachsfigur Pala (2008), ein Original aus dem Istanbuler Szeneviertel Beyoğlu, eigentlich eine „Türkei-Karikatur“, die aber leider im Ausland, ja, schon außerhalb von Istanbul nicht recht funktioniere, sondern als „etwas Exotisches“ verstanden werde. Als Pala vor (!) der Yapı-Kredi-Galerie auf der İstiklâl Caddesi in Beyoğlu ausgestellt wurde, setzte Altındere kokett folgenden Schriftzug dazu: „Ich bin mir nicht sicher, ob dies ein Kunstwerk ist.“
Necmi Sönmez interviewte die Künstlerin Füsun Onur, die ihr Atelier im verträumten Künstlerviertel Kuzguncuk hat, schriftlich. Dieser Form mag es geschuldet sein, dass als einziger in diesem Band dieser Beitrag seltsam leblos bleibt, obwohl Onurs Skulpturen und Installationen seit den späten 60er Jahren aus der Istanbuler Kunstszene nicht wegzudenken sind.
İrfan Önürmen dagegen leistet im Gespräch mit dem Kunsthistoriker Çetin Güzelhan, der zuletzt als Kurator von Istanbul Next Wave (Berlin 2009) hervortrat, einen wichtigen Beitrag zum Verständnis seines Werks. Önürmen, der von der Malerei herkommt, hat sich zunehmend auf die Verarbeitung von Zeitungen spezialisiert. Für seine „Gedächtnisbilder“ aus Zeitungen legt er seit Jahren ein Archiv ihm inhaltlich und visuell bedeutsamer Zeitungsausschnitte wie auch ein Depot von Zeitungspapier an. Auch ihm geht es vor allem darum, Diskussionen und Kritik auszulösen und der Gleichgültigkeit der Menschen entgegenzuwirken. Die türkische Gesellschaft lebe in einem Provisorium, bemerkt er, als ob sie, wie vor tausend Jahren, aus der Steppe käme und nicht bereit sei, an einem Ort langfristig Wurzeln zu schlagen. „Nur der Tag zählt, über die Zukunft macht man sich keine Gedanken“, klagt er. Adressat seiner Kunst ist allerdings beileibe nicht allein die türkische Gesellschaft; seine Terrorfabrik oder Das neue Bagdad-Museum sind mahnende Anklagen aus Zeitungspapier gegen die Politik westlicher Großmächte. Wie wäre es in der Weltöffentlichkeit angekommen, hätte er, wie ursprünglich geplant, „Kunst-Bomben“ aus Papier an die großen Museen der Welt verschickt, um gegen die Plünderung u.a. der irakischen Kulturschätze zu protestieren?
Mit Şener Özmen, dem jungen, engagierten Schriftsteller und Künstler aus Diyarbakır, einem der wenigen, die es bislang nicht in die Metropole Istanbul gezogen hat, und Bedri Baykam, dem etablierten, selbstsicheren kemalistischen Künstler und Politiker, kommen zwei höchst unterschiedliche Akteure zu Wort. Özmen stört sich daran, dass „Kuratoren aus dem Westen ohne Unterlass einen kurdischen Künstlertyp“ kreierten. Seine Romane schreibt er auf Kurdisch und hält das für das Wichtigste, was er seit Langem getan habe. Baykam indes mischt sich, seit er 1987 aus den USA zurückkam, immer dann in die Politik ein, wenn er die säkularen Werte der Republik in Gefahr sieht. Er versteht sich als „multimedialer Künstler“ und sein Leben und Handeln als „Intervention“ und weist darauf hin, dass die Bedingungen politischer Künstler im Westen und in der Türkei schlicht nicht vergleichbar seien: „Wir zahlen mit Blut, Bedrohung und Unterdrückung.“
Gülsün Karamustafa, eine der bekanntesten politischen Künstlerinnen, die jahrzehntelang an der Kunsthochschule lehrte, aber keine Genehmigung zu Auslandsreisen erhielt, wird von dem Journalisten und Kunstberater Mahmut Nüvit in ein extrem politisches Gespräch gedrängt, in dem der Interviewer die politischen Verwerfungen der letzten 40 Jahre referiert statt auf Karamustafas Werk einzugehen.
Das Gespräch mit dem über 90-jährigen Ara Güler, dem weltberühmten Fotografen, scheint für Nüvit wenig ergiebig gewesen zu sein. „Was gibt es denn da schon zu reden?“, kanzelte das Urgestein der türkischen Fotografie ihn gleich zu Beginn ab. So gerät Nüvits Beitrag an dem Aufhänger Ara Güler und seinen dokumentarischen Fotografien zu einem Streifzug durch das Istanbul der 1950-60er Jahre. Das ist nur zu verschmerzen, da über Güler bereits mehrfach publiziert wurde.
Der Überblick über die Produktionsbedingungen türkischer Gegenwartskunst der letzten 20 Jahre von Necmi Sönmez am Ende des Bandes skizziert die Entwicklung einer offenen Kunstszene in Istanbul ab Mitte der 80er Jahre, von Zeiten regionaler Konzentration bis hin zur Internationalisierung nach 2000, zeichnet die Bildung von Gruppen mit Einrichtung von Museen und Galerien nach und nennt weitere bildende KünstlerInnen, die von Bedeutung für die türkische Kunst waren und sind. „Die Zeit ist reif“, konstatiert Sönmez abschließend, „für eine genauere Wahrnehmung künstlerischer Individualitäten.“
Großes Verdienst des Bandes ist nicht zuletzt die Zusammenführung verschiedener Kunstsparten, womit entschieden zur Integration der meist isoliert voneinander existierenden und rezipierten Bereiche beigetragen wird. Neben Illustrationen aus den Werken der KünstlerInnen enthält der Band 17 Künstlerportraits von dem Leipziger Fotografen Lars Kreyßig, auf die ein besonderer Blick lohnt.
Claudia Hahn-Raabe, Johannes Odenthal (Hg.): Zeitgenössische Künstler aus der Türkei. Reihe Positionen 1. Göttingen: Steidl, 2009.